Glückliche Ehe
Margaret zu verschweigen, dass Max gezögert hatte, sie noch einmal allein zu sehen, aber sie hatte es trotzdem mitgekriegt. Das merkte er daran, wie erleichtert sie jetzt sagte: »Gut.« Sie hatte geflüstert: »Ich hoffe, ich kann mich Maxy gegenüber beherrschen. Das ist so schwer, weil ich nicht mehr« – ihr blieb die Stimme weg –, »weil ich ihm nicht noch aufs College helfen konnte, ich konnte nichts für ihn tun. Es war zu anstrengend.«
»Du hast mehr als genug für ihn getan«, hatte Enrique gesagt und sie auf die Stirn geküsst.
»Du hast dich um ihn gekümmert, Puff. Du hast dich wunderbar um ihn gekümmert.«
»Ich habe gar nichts getan«, hatte Enrique gesagt. »Er hat sich um sich selbst gekümmert, ganz allein.« Etwa einen Monat nach Margarets Krebsdiagnose hatte es ein offenes Vater-Sohn-Gespräch gegeben, ein Gespräch, von dem er Margaret nie erzählt hatte. Max war nicht so ein braver Junge wie sein älterer Bruder: Er gab Widerworte und spöttelte, wenn ihn seine Mutter nervte, und er schien überhaupt keine Angst vor ihren emotionalen Ausbrüchen zu haben. In der neunten Klasse hatte es so ausgesehen, als legte er es darauf an, sie zur Verzweiflung zu treiben. Da hatten sich die Fronten verfestigt. Sie wusste, dass Max genauso intelligent war wie sein großer Bruder, der in allen Fächern Bestnoten hatte, und Max wusste, dass Margaret wie alle jüdischen Mütter der festen Überzeugung war, A-Noten seien das Kriterium für eine geglückte Erziehung. In jenem Schulhalbjahr setzte Max seiner Mutter zu: Er bekam in zwei Fächern nur ein B-Plus und setzte so sein Studium an einer Eliteuniversität aufs Spiel. Dann, kurz nach Beginn der zehnten Klasse, bestellten die Lehrer ihr, dass sein Arbeitsverhalten in zwei Fächern lax sei: Er hatte in Englisch eine Hausarbeitnicht abgegeben und sich in Mathe nicht auf einen Test vorbereitet. Eine Woche später wurde Margarets Krebs diagnostiziert.
In der zweiten Woche der ersten Chemotherapie-Serie seiner Mutter hatte Max seinen Vater gefragt, ob er irgendwie helfen könne. »Okay«, hatte Enrique gesagt. »Ich will ehrlich sein. Ich liebe deine Mutter, du liebst deine Mutter, aber wir wissen beide, dass sie sich mit Schulnoten verrückt macht. Sie glaubt, wenn du überall ein makelloses A hast, braucht sie sich um dich keine Sorgen zu machen. Du könntest an der Nadel hängen und Leichen in deiner Badezimmerwand einmauern, aber solange du überall ein makelloses A hast, während sie um ihr Leben kämpft, wird sie glauben, dass mit dir alles in Ordnung ist. Wenn du mir helfen willst, ihr zu helfen, mach deine Schularbeiten, so gut du irgend kannst.« Danach hatte es kein B-Plus mehr gegeben. Enrique glaubte, dass Margaret auch deshalb dem Tod so gefasst entgegensehen konnte, weil Max in Yale angenommen worden war.
Der Hospizpfleger war am Telefon, um zu sagen, dass er schon früher als geplant kommen wolle, um nach Margaret zu schauen und sicherzustellen, dass sie alles Nötige im Haus hatten. Nach dem Telefonat berichtete Enrique seiner Frau, dass Max eine Freundin namens Lisa hatte. Enrique sprach nicht von den großen Gedanken und Gefühlen, die ihm im Kopf herumgingen. Ein Weilchen redeten sie, als liefe das Leben ganz normal. Margaret grinste, als er ihr berichtete, dass Lisa große, blaue Augen hatte. Er schaffte es sogar schon zum zweiten Mal an diesem Tag, dass sie lachte, indem er hinzusetzte: »Sie sind aber nicht so schön wie deine.«
»Aber sie ist nett? Sie ist lieb zu ihm?«
»Ja«, sagte Enrique, obwohl er nichts über sie wusste und nicht einmal mit Bestimmtheit sagen konnte, dass sie Max’ Freundin war. Der Hospizpfleger kam. Rebecca musste füreine Nacht nach Hause und wollte sich sicherheitshalber verabschieden. Greg kam von seinem Spaziergang zurück. Und danach verabreichte Enrique seiner Frau eine intravenöse Dosis Ativan und machte sie für die Nacht fertig. Nachdem er vor einem weiteren Mets-Desaster im Fernsehen eingeschlafen war, weckte ihn Greg und sagte: »Geh lieber ins Bett, Dad.« Enrique schlüpfte neben seine tief schlafende Frau und küsste sie auf den Kopf, sachte, um sie nicht zu wecken. Er wachte dann wie immer viel zu bald wieder auf, schon um fünf Uhr morgens, und fühlte sich, als hätte er gar nicht geschlafen. Er duschte, rasierte sich, aß eine Schale Cornflakes und ließ Lily zu ihrem Morgenbesuch herein. In dieser letzten Woche kam Lily täglich auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Nachhauseweg vorbei.
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