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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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verabreichte, die sie so lange am Leben erhalten würden, bis sie sich von ihren Söhnen verabschiedet hätte – nachdem er in seinem Leben so wenig Nützliches getan hatte, konnte er mit diesen praktischen Handreichungen verdrängen, dass er selbst panisch war und nicht begriff.
    Doch die Illusion der Nützlichkeit bröckelte, als er diese letzten, verzweifelten Maßnahmen vorbereitete. In Wahrheit hatte ihm sein Krankenschwesternjob nicht nur das Gefühl gegeben, etwas zu tun. Da war sein uneingestandenes magisches Denken gewesen: Solange er sie verarztete, würde sie leben. Seit neun Monaten hatte sein Gehirn begriffen, dass Margaret bald nicht mehr sprechen und reagieren würde, dass ihr Körper kalt und steif werden und man ihn schließlich wegbringen und in der Erde begraben würde. Aber jetzt, da er mit diesen sinnlosen Palliativa an ihrem Bett stand, wurde ihm klar, dass er diese Endgültigkeit nicht begriff, nicht begreifen konnte, dass in drei oder vier Tagen der Tod und nicht etwa Streit oder Untreue, Langeweile oder Hass seine Ehe für immer beenden würde – egal, was er tat.
    Er instruierte Rebecca: »Wenn ich dir ein Zeichen gebe, reich mir bitte zuerst das Gleitmittel und dann das Zäpfchen.«
    Seine Schwester schien nervös und überfordert. Direkte pflegerische Tätigkeiten hatte sie bisher nicht übernommen, obwohl sie sich an den Anblick der Magensonde und des Inhalts gewöhnt hatte. Sie hielt sich tapfer und würde ihn sicher nicht im Stich lassen, falls Margaret sich widersetzte.
    Er zögerte und betrachtete das reglose Häufchen unter der Bettdecke, und es kam ihm töricht vor, Margaret, die so entrückt wirkte, zu stören. Sie wollte, dass die Qualen aufhörten; warum konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Ich versuche, ihr Leid zu lindern, sagte er sich, um den Gedanken zu verdrängen, er handle eigennützig, weil er unbedingt noch einmal mit ihr sprechen wollte. Er verband das Ende des Infusionsschlauchs mit dem Cefepim-Beutel und hob einen Zipfel der Decke an, um einen Blick auf ihren Oberkörper zu werfen. Ihre Augen waren fest geschlossen, das schmale Gesicht starr wie eine Totenmaske. Sie rührte sich nicht und beschwerte sich auch nicht. Er sah, wie sich ihre Brust ganz sachte hob und senkte. Sie lebte – darüber war er erleichtert, aber das war egoistisch von ihm. Zum Glück war ihr T-Shirt so tief ausgeschnitten, dass die drei grellfarbenen Portkatheter heraushingen. Er steckte den Kopf unter das Deckenzelt, schraubte den blauen Zugang auf, reinigte ihn mit einem Desinfektionsstäbchen und schloss das Antibiotikum an. Vorsichtig richtete er sich wieder auf und deckte Margaret wieder zu. Dann stellte er die Tropfgeschwindigkeit am Infusionsständer ein und öffnete das Tropfventil.
    Gerade hatte er gegen Margarets Wunsch gehandelt. Er unternahm etwas gegen eine mögliche Infektion, obwohl sie ihn gebeten hatte, jede Behandlung einzustellen. Er sagte sich, dass sie, wäre sie bei Bewusstsein und nicht im Delirium, nicht widersprochen hätte, denn das Cefepim würdezwar die Symptome einer Infektion bekämpfen und damit würde Margaret sich besser fühlen, aber sie bliebe nicht länger am Leben, solange er ihr nicht auch Flüssigkeit gab.
    Er zögerte, bevor er ihr das Zäpfchen verabreichte. »Alles okay?«, fragte Rebecca. Er nickte. Ihm war eben ein sündiger Gedanke gekommen. Er hatte ihr das Antibiotikum gegen ihren Willen gegeben, warum sollte er da nicht auch noch einen Beutel Flüssigkeit anhängen? Sie hatte Fieber. Ein Liter würde ihr guttun und ihr Leben vermutlich nicht um mehr als einen halben Tag verlängern. Würde sie ihm zwölf zusätzliche Stunden wirklich übelnehmen?
    Er konnte einfach nicht aufgeben. Das war die Wahrheit, oder? Diese Maßnahmen waren egoistisch. Er konnte sie nicht loslassen. Deshalb hatte er es nicht geschafft, sich von ihr zu verabschieden. Nicht wegen der Besucherhorden, nicht weil sie nun eine Infektion bekommen hatte oder die Toxine in ihr Blut gelangt waren oder was auch immer sie peinigte. Er hatte sich selbst immer wieder gesagt: Sie stirbt, meine Frau stirbt, Margaret stirbt. Neulich hatte sie von sich selbst in der Vergangenheit gesprochen. »Weißt du noch, wie gern ich mich mit dir und den Jungs verfahren habe? Ich fand es toll, wenn du mich eine Abenteurerin genannt hast. Weißt du noch, Enrique? Ich war deine Abenteurerin«, sagte sie, als wäre sie ein Geist, der ihn heimsuchte. »Hilf mir«, hatte sie ihn im Krankenhaus angefleht.

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