Glücksfall
hatte Wayne in letzter Zeit Damenbesuch?«
»Ja.«
»Ja?«
»In den letzten … ich weiß nicht genau, wie lange … schon eine ganze Weile, ein paar Monate auf jeden Fall … ist öfter eine junge Frau zu ihm gekommen.«
»Können Sie sie beschreiben?« Ich wagte kaum zu atmen, so viel Hoffnung legte ich in seine Antwort.
Er dachte nach. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Jetzt fällt mir ein, dass sie immer eine Sonnenbrille trug. Und eine Baseballkappe. Aber es war ja auch oft sonnig, den Frühling und Sommer über, warum also nicht?«
Da sieht man es, diese Freilufttypen wussten solche Dinge über das Wetter; an mir gingen sie völlig vorbei.
»War sie klein?«, fragte ich. »Groß? Dick? Dünn?«
»Ich weiß nicht. Mittel.«
Mittel. Tolle Hilfe! Aber ich hätte auch keine Hilfe von Nicholas erwarten sollen, er war eben einfach nicht der Typ, der auf Äußerlichkeiten achtete.
Ich zeigte ihm das Bild von Birdie. »Ist das die Frau?«
»Nein. Das ist seine frühere Freundin. Ich weiß keine Ein zelheiten, aber sie haben sich schon vor Jahren getrennt.«
»Und in was für einem Auto ist die geheimnisvolle Frau gekommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Kein Auto. Wenn sie eins hatte, hat sie es nicht in Mercy Close geparkt. Kann sein, dass sie mit der DART gekommen ist.«
»Sie waren nicht zufällig am Mitt wochabend oder Donnerstagmorgen hier, oder?«, fragte ich.
Er dachte kurz nach. »Am Mittwochabend war ich hier, am Donnerstag bin ich früh losgefahren, ans Meer.«
»Ist Ihnen am Mittwochabend etwas Besonderes aufgefallen?«
Ich wartete auf die Rückfrage: »Wie, was Besonderes?«, aber zu meiner Überraschung (von der erstaunlichen Sorte) sagte er: »Ja. Ich habe laute Stimmen in Waynes Haus ge hört. Er und jemand anders, wahrscheinlich eine Frau, haben sich gestritten.«
»Meinen Sie das im Ernst?«
»Ja.«
Oh, mein Gott! »Haben Sie verstanden, was gesprochen wurde?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hatte überlegt, ob ich rübergehen sollte, aber nach einer Weile hörte es auf. Ich war erleichtert, wenn ich ehrlich sein soll. Es ist nicht toll, sich in das Privatleben anderer einzumischen. Wenn Leute sich anschreien wollen, soll man sie lassen, richtig?«
»Sicher, da haben Sie recht, klar.« Das hier war nicht der Zeitpunkt für eine Diskussion über die Sozialregeln in der Gesellschaft. »Aber Sie sind sich sicher, dass es Wayne und die geheimnisvolle Frau waren?«
»Mit Bestimmtheit kann ich es nicht sagen. Aber möglich ist es.«
»Gut, ich stelle die Frage noch einmal anders. Sie sind sich sicher, dass es Wayne war?«
Nicholas dachte nach. »Ja, doch. Seine Stimme kenne ich.«
»Und das andere war auf jeden Fall eine Frau?«
Weiteres Nachdenken. Zusammenkneifen der Augen in seinem wetterfaltigen Gesicht. »Ja.«
»Und Sie haben nicht gehört, was gesprochen wurde?« Ich flehte ihn nahezu an. »Selbst ein einzelnes Wort könnte hilfreich sein.«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Nichts. Tut mir leid. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Brennnesseltee?«
»Nein.«
Eine Sekunde zu spät fügte ich hinzu: »Danke. Aber nein, danke.«
Als ich aus Nicholas’ Haus kam, standen plötzlich Cain und Daisy auf der Straße, als wären sie aus ihren Gräbern auferstanden, und bewegten sich wie zwei Zombies auf mich zu. »Helen«, riefen sie. »Helen.« Aber ich sprang in mein Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Herr im Himmel!
56
A ls mir klar wurde, dass mein nächstes Ziel der MusicDrome sein sollte, setzte die Panik wieder mit aller Macht ein. Wenn Wayne sich eine Pause gegönnt hatte, war die jetzt lang genug gewesen. Er müsste längst zurück sein. Und wenn in mir schon Panik aufstieg, wie mochte es da Jay und John Joseph und den anderen erst gehen?
Ich stellte mein Handy wieder auf laut und stieg ins Auto. Zwei Minuten später klingelte es. Nummer unterdrückt, aber ich ging trotzdem dran. In diesem späten Stadium durfte ich nichts verpassen.
Eine Frauenstimme sagte: »Ist das Helen Walsh?«
»Wer möchte das wissen?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich bin Birdie Salaman.«
Großer Gott!
»Ja, hier ist Helen«, sagte ich und hätte mich vor Aufregung beinahe verschluckt.
»Ich möchte mit Ihnen über Gloria sprechen.« Sie klang entschlossen, fast aggressiv.
»Einen Moment, ich muss eben …« Verzweifelt hielt ich Ausschau nach einem geeigneten Platz zum Halten. Ich konnte kaum glauben, dass sie sich endlich gemeldet
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