Glücksfall
können, aber jetzt hatte ich einen anderen Weg eingeschlagen, und der gefiel mir. »Ich hätte nicht anrufen sollen. Es war nur einen Moment lag …«
»Wie schlimm ist es, Helen?«
»Nicht besonders schlimm. Tut mir leid, dass ich Sie belästige.«
»Helen«, sagte sie sanft, »Sie vergessen, dass ich Sie kenne. Ich habe nie jemanden gekannt, der so eigenständig ist wie Sie. Sie hätten mich nicht angerufen, wenn Sie nicht verzweifelt gewesen wären.«
Und, das muss ich sagen, damit hatte sie mich. Sie kannte mich. Jemand kannte mich. Ich war nicht vollkommen allein.
»Denken Sie an Selbstmord?«, fragte sie.
»Ja.«
»Haben Sie dem Impuls nach gehandelt?«
»Ich habe mir ein Stanley-Messer gekauft. Und andere Sachen. Ich mache es morgen.«
»Wo sind Sie jetzt?«
»In meinem Auto. Ich stehe in der Gardiner Street.«
»Haben Sie das Messer bei sich?«
»Ja.«
»Sehen Sie in der Nähe einen Mülleimer? Sprechen Sie mit mir, Helen. Können Sie einen Mülleimer sehen? Sehen Sie sich um.«
»Ja, da ist einer.«
»Gut, jetzt steigen Sie aus dem Auto und werfen das Messer in den Mülleimer.«
Gehorsam nahm ich die Tüte vom Boden und stieg aus. Es war so schön, dass jemand anders eine Zeit lang die Entscheidungen für mich traf.
»Da steht ›Nur Plastik‹ drauf«, sagte ich.
»Ich glaube, in diesem Fall können wir eine Ausnahme machen.«
Ich warf die ganze Ausrüstung – die Tüte mit dem Messer und dem Tesafilm und dem Papier und dem Marker – in den Mülleimer. »Okay, ich habe es gemacht.«
»Gut, setzen Sie sich wieder ins Auto.«
Ich setzte mich ins Auto und zog die Tür zu.
»Damit hätten wir das unmittelbare Problem aus der Welt geschafft«, sagte sie. »Aber natürlich hindert niemand Sie daran, ein neues Messer zu kaufen. Meinen Sie, Sie schaffen den Rest des Tages, ohne das zu tun?«
»Also, ich hatte sowieso vor, es erst morgen zu tun, deshalb denke ich, das geht.«
»Gibt es jemanden, mit dem Sie den heutigen Abend verbringen können? Jemand, bei dem Sie sich sicher fühlen?«
Ich musste darüber nachdenken. Ich konnte in Waynes Haus gehen. Da fühlte ich mich sicher. Wahrscheinlich war es nicht ganz das, was Antonia im Sinn hatte, aber ich sagte: »Ja.«
»Wir haben mehrere Möglichkeiten. Leider bin ich heute nicht im Lande, aber morgen Nachmittag komme ich zurück. Dann können wir uns treffen. Oder würden Sie die Möglichkeit erwägen – ich weiß, dass Sie es schrecklich fanden –, wieder in die Kli…«
Ich ließ sie nicht ausreden. »Ich denke darüber nach.«
»Sie sind sehr stark«, sagte sie. »Viel stärker und viel muti ger, als Sie selbst glauben.«
»Meinen Sie?«
»Aber ja.«
Ich war fast verärgert, dass sie das sagte, denn jetzt hatte ich das Gefühl, ich müsste ihr Vertrauen in mich rechtfertigen. Ich durfte sie nicht enttäuschen.
Nachdem sie aufgelegt hatte, saß ich sehr, sehr lange in mei nem Auto. Ich hatte ein Gefühl von … nicht Frieden, es war nicht so angenehm wie Frieden, eher von Schicksalser gebenheit. Der Impuls, meinem Leben ein Ende zu berei ten, war verschwunden, vorerst wenigstens. Er konnte zurück kommen, letztes Mal war er auch zurückgekommen, aber jetzt fühlte es sich so an, als ob ich den viel schwierigeren Weg gehen musste: Ich musste es durchstehen. Ich würde das selbe tun wie letztes Mal: Jede Menge Tabletten nehmen, zweimal in der Woche zu Antonia gehen, Yoga machen, viel leicht joggen, nur blaue Nahrungsmittel essen, vielleicht in die Klinik gehen, um die Selbstmordgedanken in Schach zu halten. Ich konnte wieder einen Nistkasten basteln.
Mein Handy klingelte. Es war wieder Artie.
Ich konnte das Gespräch mit ihm vermeiden. Warum sollte ich mir etwas so Schmerzliches antun? Aber – lag es daran, dass ich Unerledigtes nicht mochte? – ich ging dran.
»Ich muss dich sehen«, sagte er.
»Das dachte ich mir.«
»Wir können das nicht am Telefon besprechen.« Er klang, als sei er in arger Bedrängnis. »Ich muss dich sehen.«
Ich gab auf ganzer Linie nach. Dann wäre auch das erledigt. »Wann? Jetzt?«
»Jetzt wäre gut. Ich bin im Büro.«
»Okay. In zwanzig Minuten bin ich bei dir.«
65
W ährend der Fahrt fing ich an zu weinen. Erst ganz passiv – die Tränen flossen mir still über das Gesicht, ohne dass ich etwas tat. Dann, als Brocken von Trauer losbrachen und abrupt in meine Kehle aufstiegen, wurde mein Schluchzen heftiger, bis es sich zu einem lauten Keuchen entwickelt hatte. Als ich vor einer roten
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