Glücksfall
Strickjacke. (In meiner Agnes-O’Brien-Verkörperung.)
»Hier, ich hab’s gefunden«, sagte sie. »Geben Sie mir die Nummer durch.«
»Null«, sagte ich sehr bedächtig. »Null. Null.« Ich artikulierte jedes Wort sehr sorgfältig, denn ich war mir sicher, Agnes O’Brien wäre auf jeden Fall sehr gründlich. »Oder, wie die jungen Leute heute sagen, zero, zero, zero, neun …«
»Tantiemen«, sagte Maybelle, als ich endlich fertig war, »für ›Windmill Girl‹.«
Windmill Girl! Was? »Windmill Girl«? Der Song, der Docker zum Weltstar gemacht hatte. Windmill girl, you blow me away.
Ich war so aufgeregt, dass ich fast vergessen hätte, mit meiner monotonen Agnes-O’Brien-Stimme zu sprechen. »Es sind keine Tantiemen«, sagte ich. Das war unmöglich. Tantiemen variierten abhängig von den Verkaufszahlen. Tantiemen bekam man zweimal im Jahr, im September und im März. Und das Wichtigste: Warum sollte Wayne Diffney für einen Song von Docker Tantiemen kassieren?
»Irgendwas ist daran komisch«, sagte Maybelle und hämmerte weiter auf die Tasten.
Recht hast du, Maybelle, das ist wirklich komisch. Forsch ein bisschen und berichte mir dann.
Während sie also in verstaubten Ordnern wühlte, gab ich bei Google »Windmill Girl Wayne Diffney« ein und erhielt zu meiner Überraschung (von der angenehmen Sorte) Tausende von Zeitungsartikeln, die mehr als zehn Jahre alt waren. Während ich die Seiten runterscrollte und sie dabei kurz überflog, fiel mir etwas Interessantes auf – in all der Aufregung, dass ein Ire (Docker) in den USA großen Erfolg hatte und dass die Laddz sich kurz darauf trennten, war eine wenig beachtete Tatsache untergegangen, nämlich dass Wayne den Refrain von »Windmill Girl« geschrieben hatte. Es hieß, dass Wayne und Docker auf ihren Gitarren rumgeklimpert hatten und einen Song komponieren wollten. Docker hatte den Hauptteil des Songs schon zusammen, aber in einem Geniestreich war Wayne der Refrain eingefallen. Normalerweise hätten sie beide die Rechte an dem Song gehabt, aber Wayne schenkte Docker seinen Anteil zum Geburtstag.
Das Nächste war, dass Docker den Song als Solist auf nahm, und der Titel wurde weltweit ein Riesenerfolg. Wayne konnte daran nichts ändern, er hatte seine Rechte abgetreten. Seltsam war nur, dass Wayne davon absah, Docker zu denunzieren und finanzielle oder künstlerische Anerkennung zu verlangen.
Und noch seltsamer war, dass niemand sagte: Meine Güte, ist Wayne nicht ein brillanter Songwriter? Denn das war er. Über »Windmill Girl« konnte man sagen, was man wollte, aber es war ein mitreißender Song.
Vermutlich verblasste Wayne neben Docker, der so offensichtlich ein Star war.
Der Rest der Geschichte ist bekannt. »Windmill Girl« war der erste Schritt auf Dockers Weg zu weltweitem Erfolg. Wayne hingegen schrieb zahllose weitere Songs, aber nie wieder etwas, das sich damit messen konnte.
Unterm Strich, wenn man ans Karma dachte, konnte man sagen, dass Docker in Waynes Schuld stand.
Und das war Docker auch klar – warum sonst zahlte er eine Beteiligung für einen Song, an dem er die alleinigen Rechte besaß? Mein Handy klingelte, es war Maybelle, die mir meine Schlussfolgerungen bestätigte – dass die jährlichen Zuwendungen in Höhe von fünftausend Euro direkt von Docker kamen. Sie versuchte noch, mir irgendwelche technischen Einzelheiten und rechtlichen Hintergründe zu erklären, aber das wirklich Wichtige hatte ich längst verstanden.
»Vielen Dank, meine Liebe«, sagte ich in meinem letzten Auftritt als Agnes O’Brien. »Ich werde Sie in meine Gebete einschließen.«
Ich zitterte vor Aufregung. Die Verbindung zu Docker eröffnete völlig neue Perspektiven. Docker hatte Geld und Kontakte und Zugang zu Privatfliegern. Ihm war es zuzutrauen, dass er Wayne ohne Pass außer Landes brachte. Wayne konnte irgendwo in der Welt sein.
Deshalb musste ich, und zwar ziemlich dringend, mit Docker sprechen. Das jedoch war ebenso unmöglich wie ein Plausch mit dem lieben Gott.
Waynes Telefonrechnungen konnten da hilfreich sein. Ich sprang auf, fand in einem Ordner die entsprechenden Verbindungsnachweise und überflog die Nummern der ausgehenden Anrufe, wobei ich besonders nach der Vorwahl 310, der Nummer für Beverly Hills und Malibu, suchte. Nichts.
Allerdings kam mehrmals die Vorwahl 212 vor: Manhattan. Großartig. Wen hatte Wayne in Manhattan angerufen? Da gab’s nur eine Methode.
In Dublin war es zwei Uhr nachmittags, und das hieß, es war neun Uhr
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