Glücksfall
systematisch, sondern folgte meinem Bauchgefühl. Wenn ich an einer Sache interessiert war, dann war sie der Definition nach interessant, richtig?
Ich holte ein paar Ordner aus dem Regal – Bankauszüge, Steuerbescheide, von Wayne selbst ausgestellte Rechnungen. Manches war leicht zuzuordnen – Tantiemen für die Aufnahmen der Laddz wurden zweimal im Jahr ausgeschüttet, im September und im März. Ist das zu glauben? Immer noch! Nach all den Jahren. Die Beträge wurden kleiner, aber es waren immer noch ein paar Pfund. Weitere Tantiemen wurden für Waynes Solo-Platten gezahlt – erheblich weniger als für die Laddz-Aufnahmen, kaum mehr als ein paar Cent. Dann gab es Überweisungen von Hartley Inc., und man brauchte kein Genie zu sein, um herauszufinden, dass es sich um John Josephs Firma handelte. Sie kamen sporadisch, waren unterschiedlicher Höhe und konnten Waynes Rechnungen zugeordnet werden. Alles war klar und wohlgeordnet und ziemlich bescheiden, Wayne verdiente keine enormen Summen. Ungefähr das, was ich in einem guten Jahr verdienen würde. Aber als ich die verschiedenen eingehenden Posten des letzten Jahres addierte, stellte ich fest, dass die Summe nicht mit der auf der Steuererklärung übereinstimmte. Ich rechnete noch einmal nach, und als ich wieder dieselbe Differenz erhielt, dachte ich zunächst, dass er bei seiner Steuererklärung schummelte. Aber nein, das Gegenteil war der Fall. Er hatte sein Einkommen um fünftausend Euro höher angegeben.
Seltsam. Ich blätterte die Auszüge für sein Sparkonto zurück und entdeckte den Posten, im Mai letzten Jahres, eine Einzahlung von fünftausend Dollar, grob gerechnet entsprach das fünftausend Euro.
Es gab keinen Hinweis, woher oder von wem das Geld gekommen war. Anders als die Tantiemenzahlungen oder die Überweisungen von Hartley Inc. war der Verwendungszweck lediglich eine Reihe von Zahlen.
Und warum war es eine ganz gerade Summe? Und in Dollar?
Ich blätterte zurück zu dem Jahr davor und fand auch da, ebenfalls im Mai, eine Einzahlung von fünftausend Do llar. Und im Jahr davor. Um weiter zurückgehen zu können, musste ich einen neuen Ordner aus dem Regal holen, aber es war dasselbe – fünftausend Dollar. Immer im Mai. Seit mindestens zehn Jahren, vielleicht auch länger, aber Waynes Ablage ging nicht weiter zurück.
Woher kam das Geld? Auf dem Kontoauszug stand nur die Nummer, aber jemand – der Steuerberater? Ein Steuerprüfer? – hatte mit der Hand »Lotus Flower« danebengeschrieben, und bei Google erfuhr ich, dass es ein Label mit diesem Namen gab, das zu Sony gehörte.
Also rief ich bei Sony an und gab vor, Agnes O’Brien von der Steuerbehörde zu sein und Wayne Diffneys Einnah men überprüfen zu wollen. Normalerweise, wenn man sagt, man sei vom Finanzamt, richten sich die Leute kerzengerade in ihrem Stuhl auf und sind hilfsbereit, aber ich wurde von einer Abteilung in die nächste gereicht, durch die weniger glorreichen Hinterstuben der Buchhaltung, von Dublin nach England und wieder zurück, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass die Angestellten nicht vorsätzlich ihre Hilfe verweigerten, sondern dass sie verwirrt waren, weil die Nummer keinen Bezug zu einer Aufnahme von Lotus Flower hatte.
Schließlich gab ich es auf. Ich setzte mich auf den Fuß boden von Waynes Büro und wusste nicht weiter. Was jetzt?
Müßig blätterte ich in einigen der älteren Kontoauszüge, und auch da hatte jemand mit der Hand hilfreich eine Erklärung auf den Auszug neben den Betrag geschrieben, nur dass es diesmal nicht »Lotus Flower« war, sondern »Dutch Whirl«.
Ich schöpfte neuen Mut und griff wieder zum Telefon. Ich wählte die Nummer von Maybelle in London, weil sie von allen, mit denen ich gesprochen hatte, am wenigsten dumpf gewirkt hatte. Außerdem fand ich ihren Namen cool.
»Maybelle«, sagte ich, »hier ist noch einmal Agnes O’Brien von der irischen Finanzbehörde. Sagt Ihnen der Name Dutch Whirl etwas?«
»Ja. Das war ein Plattenlabel. Aber das ist schon vor Jahren eingestellt worden.«
»Meine Liebe, haben Sie vielleicht Zugang zu den Platten von Dutch Whirl?« Als Agnes O’Brien sprach ich mit knapper, monotoner Stimme.
»Mmm … mal sehen.« Sie hämmerte auf die Tasten und summte dazu, und ich fand, sie klang fabelhaft, als hätte sie einen riesigen Afro-Kopf, leuchtend blauen Lidschatten und unglaublich kunstvoll lackierte Fingernägel.
Ich hingegen trug Ecco-Schuhe und eine grob gestrickte dunkelblaue
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