Glücksfall
anzurufen; vielleicht würde er denken, es sei Wayne, und abnehmen. Aber auch diesmal ging der Anruf direkt zur Mailbox, und ich raffte unverzüglich all meine Energie zusammen, um mit munterer, freundlicher Stimme eine Nachricht zu hinterlassen. »Digby, hahaha, Helen hier, eine Freundin von Wayne. Rufen Sie doch bitte zurück, ja? Meine Nummer haben Sie, aber für alle Fälle gebe ich sie Ihnen noch einmal.« Ich entrang mir noch ein paar luftige Lacher, dann legte ich auf und wandte meine Aufmerksamkeit Birdie Salaman zu – auch sie hatte nicht zurückgerufen.
Bei dieser Arbeit darf man nicht zu empfindlich sein. Das heißt, man darf es nicht persönlich nehmen.
Birdie war vielleicht im Urlaub, vielleicht war sie krank, aber ich hatte das Gefühl, sie wich mir aus. Ich sollte ihr einen spontanen Besuch abstatten. Andererseits zögerte ich, den ganzen Weg bis Skerries zu fahren, nur um nachzusehen, ob sie da war. Vielleicht war sie eine der wenigen im Land, die noch eine Arbeitsstelle hatten.
Ich sah bei Google nach. Bei ihrem Namen bekam ich mehrere Seiten über Vogelreservate, Salamander und Echsen, aber ich suchte weiter, ging zur nächsten Seite, und da, plötzlich hatte ich es! Nach Hunderten von Einträgen fand ich eine einzeilige Erwähnung von Birdie Salaman in einer recht unbekannten Zeitschrift, die Paper Bags Today hieß.
Das musste sie sein.
Es gab ein Zitat von ihr: »Die Steuer auf Plastiktüten hat eine überaus positive Wirkung auf unsere Industrie.« Ich las den Artikel mit Interesse und einem gewissen Vergnügen. Ist es zu fassen, dass Papiertüten ein Wachstumsbereich sind? Eine herzerwärmende Geschichte in diesen Zeiten der Rezession. Allerdings hart für die, die in der Plastiktüten-Branche arbeiten.
In dem Artikel stand, dass Birdie leitende Verkaufsmanagerin eines Betriebs sei, der Brown Bags Please hieß und seinen Sitz – unerwartet günstig – ganz in der Nähe hatte, nämlich in Irishtown.
Bevor ich jedoch ins Auto sprang, rief ich an, um zu hören, ob sie da war.
Eine Frau nahm ab, ersparte mir aber das gewöhnliche Telefongetue und sagte schlicht: »Brown Bags Please.« Sie legte keine Betonung auf das Wort »Please«, sondern ließ das Ende einfach weggleiten, als wäre sie es leid, es sagen zu müssen, weshalb ich den Eindruck bekam, dass BBP vielleicht nur eine kleine, nicht sehr wichtige Firma sei.
»Kann ich mit Birdie sprechen?«
»Worum geht es?«
»Papiertüten.«
»Ich stelle Sie durch.«
Nach einigem Klicken und Zischen war die Frau wieder dran. »Ich kann sie nicht finden, aber sie ist hier. Vielleicht ist sie rausgegangen, um Chips zu kaufen, davon hatte sie vorhin gesprochen. Soll ich ihr etwas ausrichten? Ich müsste mal einen Stift suchen.«
»Nein, vielen Dank. Ich rufe ein andermal an.«
Das würde ich nicht tun. Ich würde persönlich aufkreuzen und war schon unterwegs.
Ich wollte gerade ins Auto steigen, als mein Handy klingelte. Harry, der Gangster. Vielmehr einer seiner »Mitarbeiter«.
»Er kann Sie in den nächsten zwanzig Minuten sehen.«
Zwanzig Minuten! »Mann, gibt er mir nicht einmal eine halbe Stunde? Es ist Berufsverkehr und Freitagnachmittag …«
»Zwanzig Minuten. Er geht heute Abend zu einem Hahnenkampf für wohltätige Zwecke …«
»… ach so, und vorher muss er sich noch Sonnenbräune aufsprühen, ich weiß.«
»Moment mal …«
»Dasselbe Büro wie früher?«
»Ja.«
Harrys Zentrale war Corky’s, eine gottverlassene Billardhalle in der Gardiner Street. War man nicht ohnehin schon lebens müde, reichten fünf Sekunden unter den toxischen orangefarbenen Neonröhren, dass einem jeglicher Lebenswille aus dem Körper wich. Wie jedes Mal saß Harry mit finsterem Blick ganz hinten, die Schultern krumm, die Ellbogen auf den Resopaltisch gestützt. Wenn man diesen gewöhnlich aussehenden Mann sah – klein, unauffällig, ein borstiger rötlicher Schnurrbart auf der Oberlippe –, konnte man sich kaum vorstellen, dass er ein Gesetzesbrecher von erheblicher Bedeutung war.
Wir nickten uns zur Begrüßung zu, und ich rutschte in die Nische und versuchte, auf der Bank eine Stelle zu finden, wo nicht alle Polstermasse fehlte. Obwohl inzwischen mehrere Jahre vergangen sind, kann die Wunde an mei nem Hintern noch immer höllisch wehtun, wenn ich falsch sitze.
»Möchten Sie etwas trinken, Helen?«
Das war keine Einladung, mit ihm ein Gläschen zu heben – Harry trank nur Milch. Und weil es zu meiner widerborstigen Persönlichkeit
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