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Glücksfall

Glücksfall

Titel: Glücksfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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morgens in New York. Da müssten sie doch an der Arbeit sein, oder, in der Stadt, die niemals schläft?
    Schon nach dem zweiten Klingeln wurde abgenommen. Docker persönlich? Das bezweifelte ich, und ich wappnete mich für eine sonnige Singsang-Stimme, man kennt das ja: »Docker Enterprise, Sie sprechen mit April, ich liebe meine Arbeit und habe gerade den allerbesten Mango-Pfefferminz-Tee getrunken, das Wetter hier in Manhattan ist supertoll, und jetzt bin ich ganz heiß darauf, Sie durchzustellen.«
    Stattdessen war es eine Männerstimme, tief und brummend und, das war das Überraschende, in einer fremden Sprache sprechend. Offenbar hatte ich mich verwählt. Schnell legte ich auf und wählte noch einmal, diesmal tippte ich jede einzelne Ziffer sorgfältig ein. Wieder hatte ich die Brummstimme dran. Da stimmte was nicht.
    Ich suchte eine andere Manhattan-Nummer auf der Telefonrechnung, und diesmal meldete sich wirklich ein Mädchen, und sie hatte tatsächlich den fröhlichen Tonfall, der anscheinend den Telefonmädchen auf der ganzen Welt ein gebläut wird. Aber wie der Mann zuvor sprach sie eine fremde Sprache, die ganz ähnlich wie die des Mannes klang, guttural und beinahe wie ein Räuspern.
    »Hallo«, sagte ich vorsichtig.
    »Guten Tag.« Sie brauchte weniger als einen Herzschlag, um ins Englische zu wechseln. »Funky Kismet Group. Ich heiße Yasmin. Was kann ich für Sie tun?«
    »Wo sind Sie?«
    »An meinem Arbeitsplatz.«
    »Ich meine, in welcher Stadt?«
    »In Stamboul.«
    »Ist das dasselbe wie Istanbul?«
    »Ja.«
    Istanbul! Richtig! Da hatten sie dieselbe Vorwahl wie in Manhattan. Das hatte ich sogar gewusst, und wenn mein Kopf normal funktioniert hätte, wäre es mir auch eingefallen. Die Ländervorwahl war natürlich eine andere, und das wäre mir wahrscheinlich auch aufgefallen, hätte die Aussicht, Docker an den Apparat zu kriegen, mein Hirn nicht völlig benebelt.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Yasmin wieder.
    »Verraten Sie mir bitte nur eins«, sagte ich, »Sie haben sich mit Funky Kismet gemeldet. Ist das eine Plattenfirma?«
    »Ja.«
    »Danke. Eh … Inschallah . Ende.«
    Mist. Wayne hatte also nicht Docker angerufen. Er hatte in der Türkei angerufen, im Zusammenhang mit seiner Ar beit. Und eine kurze Überprüfung der anderen ausländischen Nummern ergab, dass er auch ab und zu mit Kairo und Beirut telefonierte.
    Die einzige Nummer in den Staaten, bei der Wayne regel mäßig angerufen hatte, war Upstate New York, und ich hätte gewettet, dass es die seines Bruders Richard war. Um ganz sicherzugehen, wählte ich sie. Ein Mann nahm an, und ich sagte: »Spreche ich mit Richard Diffney?«
    »Ja.«
    »Mein Name ist Helen Walsh. Ich rufe wegen Wayne an.«
    »Was ist mit ihm?«, fragte Richard besorgt. »Ist er wieder da?«
    »Nein. Noch nicht. Ich vermute, Sie haben nichts von ihm gehört?«
    »Nein.«
    »Und Sie haben keine Ahnung, wo er sein könnte?«
    »Nein. Tut mir leid.« Man kann sich am Telefon natürlich nie sicher sein, aber er klang wirklich so, als würde es ihm leidtun.
    »Übrigens, ich würde gerne Gloria, seine Freundin, kontaktieren.«
    »Gloria?« Er klang aufrichtig verdutzt. »Die kenne ich nicht. In meiner Gegenwart hat er diesen Namen nie erwähnt.«
    Ich unterdrückte ein Seufzen, aber es war den Versuch wert gewesen.
    »Wenn Sie von Wayne hören, würden Sie mich bitte an rufen?« Ich ratterte meine Nummern runter und verabschie dete mich.
    Spontan beschloss ich, Waynes Eltern anzurufen. Auch wenn es viel zu naheliegend sein mochte, er konnte trotzdem bei ihnen sein. Am anderen Ende wurde sofort abgenommen, von einer Frau mit sanfter Stimme.
    »Spreche ich mit Mrs. Diffney?«, fragte ich.
    »Ja …«
    »Ich heiße Helen Walsh. Ich bin …«
    »Ja. John Joseph hat mir Bescheid gesagt. Gibt es etwas Neues von Wayne?«
    »Ich muss mit ihm sprechen. Bitte sagen Sie mir, wo er ist.«
    »Aber …«
    »Ich weiß, dass Sie ihn versteckt halten, aber diese Sache ist wirklich sehr wichtig.«
    »Ich verstecke ihn nicht …« Sie klang verdutzt. »Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Ich dachte, Sie seien engagiert wor den, um ihn zu finden.«
    Ich glaube, ich kann einen Lügner durchschauen. Natürlich ist es besser, wenn man jemandem ins Gesicht sehen kann, aber auch bei Stimmen erkenne ich die Pausen, die Auslassungen, die winzigen Unterbrechungen, die andeuten, dass jemand sich etwas ausdenkt. Mrs. Diffney klang so ehrlich wie ein Tag lang war (und im Moment waren sie

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