Glücksfall
verunsichert.
Den ganzen Tag über schwirrten Bienen und Glasscherben in meinem Magen umher, sodass ich bis zum späten Abend keinen Bissen runterkriegen konnte. Dann überkam mich ein gieriger Hunger, und ich verschlang Kekse, Chips und mehrere Schälchen Frühstücksflocken.
Ich fing an, die Tabletten zu nehmen, doch nach wenigen Tagen saß ich wieder in der Praxis von Dr. Waterbury und verlangte eine höhere Dosis, aber er erklärte mir – freundlich, aber deutlich –, es würde mindestens drei Wochen dauern, bis die Medikamente wirkten, ich solle keine Wunder erwarten.
»Bitte, sagen Sie so etwas nicht.« Ich weinte und wand mich vor ihm. »Ich brauche etwas, das hilft, und ich muss schlafen. Bitte geben Sie mir Schlaftabletten.«
Widerstrebend gab er mir zehn Stilnox und wurde nicht müde, mich zu warnen, dass sie suchtgefährdend waren und dass ich, wenn ich mich zu sehr an sie gewöhnte, trotzdem nicht schlafen könnte.
»Aber ich kann auch so nicht schlafen!«, sagte ich.
»Ist irgendetwas geschehen?«, fragte er. »Gab es einen Aus löser … für diesen Zustand?«
»Nein.« Da war nichts, kein Trauma, weder in letzter Zeit noch in der Vergangenheit. Keine zerbrochene Beziehung. Niemand, der mir nahestand, war gestorben. Ich war nicht überfallen, ausgeraubt worden, nichts. Das Ganze kam aus heiterem Himmel.
Ich wünschte, es hätte etwas gegeben. Denn wenn ich nicht wusste, warum ich in diesem Zustand war, wie sollte ich dann wieder herauskommen, wie konnte ich je wieder normal werden?
»Haben Sie sich schon einmal so gefühlt?«, fragte er.
»Nein.« Ich ließ mein Leben schnell an mir vorüberlaufen. »Oder vielleicht doch … Ein paarmal. Aber nicht so schlimm. Nie so schlimm. Und die Anfälle dauerten nicht lange, sodass ich sie nicht richtig bemerkt habe. Wenn Sie das verstehen.«
Er nickte. »Depressionen sind episodisch.«
»Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, wenn man einmal eine hatte, bekommt man irgendwann wieder eine.«
Ich starrte ihn an. »Sagen Sie das, damit ich mich besser fühle?«
»Es ist lediglich eine Information.«
Ich ging nach Hause und wartete, dass die drei Wochen vorübergingen, und während ich wartete, verbrachte ich viele Stunden im Internet, informierte mich bei Google über Depressionen und war alarmiert, weil die Beschreibungen nicht vollständig auf meine Symptome zutrafen. Bei einer klassischen Depression wurde alles, soweit ich es verstand, langsamer und kam schließlich zum Stillstand, sodass man am Ende gar nichts mehr tun konnte. Ich las einen Blog von einer Frau, die im Bett gelegen hatte und zur Toilette musste und es erst nach siebenundsechzig Stunden schaffte, aus dem Bett zu kriechen und aufs Klo zu gehen.
Bei mir war das nicht so. Ich war in ständiger Aufregung, ich musste immerzu etwas zu tun haben, musste mich bewegen. Allerdings brachte ich nichts zuwege, weil ich mich auf nichts konzentrieren konnte. Ich konnte nicht lesen, nicht einmal Zeitschriften. Wären da nicht DVDs gewesen, ich weiß nicht, was ich gemacht hätte.
Ich hatte nicht die Entscheidung getroffen, keine Mails zu schreiben, aber es wäre leichter gewesen, den Mount Everest zu besteigen, als einen Satz zu formulieren. Auch dass ich nicht ans Telefon ging, war kein fester Entschluss; ich wollte es durchaus, später oder am nächsten Tag, so bald ich wieder wusste, wie man als normaler Mensch sprach. Ich meldete mich auch nicht krank, so dramatisch war es nicht. Stattdessen meldete die Krankheit sich. Irgendwie war es mir gelungen, ein paar Fälle, an denen ich gerade arbeitete, abzugeben, und dann glitt ich in eine Situation, in der ich keine Arbeit hatte und von der ich fest annahm, dass sie nur vorübergehend sein würde, nur dass dieses Vorübergehend schon eine Weile dauerte.
Leute riefen an mit neuen Fällen, aber ich konnte nicht mit ihnen sprechen, und ich konnte sie auch nicht zurückrufen, und nach ein paar Tagen war es zu spät, ich wusste, dass jemand anders den Auftrag bekommen hatte.
Ich sah viel fern, besonders Nachrichtenprogramme, was ich früher nie getan hatte. Die schlimmen Nachrichten – Naturkatastrophen, Terroristenangriffe – riefen eine starke Reaktion bei mir hervor, aber nicht, wie es normal gewesen wäre. Sie weckten Hoffnungen in mir.
In den Internetforen zum Thema Depression sah ich, dass viele der Teilnehmer von schlimmen Ereignissen zutiefst mitgenommen waren, mich aber munterten sie auf. Wenn es irgendwo in der Welt ein Erdbeben gab –
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