Glückskekssommer: Roman (German Edition)
soll ihn auch niemand anders kriegen, stimmt’s?« Ihre Augen funkeln. »Ein paar kleine unauffällige Schnitte an der Naht und schon ist die Meisterin blamiert.«
Ich starre sie ungläubig an. Hat sie das jetzt wirklich gesagt? Glaubt sie allen Ernstes, dass ich das Kleid kaputtgemacht habe? Diese wunderschöne Robe, an der ich wochenlang gearbeitet habe und die meine Eintrittskarte in die Welt der Schneiderkünstler sein sollte?
»Das ist nicht wahr«, sage ich. »Ich …« Ich bin so aufgeregt, dass ich kaum Luft bekomme.
»Ich will ehrlich mit dir sein«, sagt die Senner etwas ruhiger. »Ja, wir waren alle neidisch auf dich. Das, was wir uns seit Jahren erträumen, ist dir einfach in den Schoß gefallen. Dabei bist du noch nicht mal trocken hinter den Ohren.«
Das stimmt gar nicht! Ich bin doch nicht Aschenputtel, dem die Kleider von irgendwelchen Haselnussbäumen auf den Kopf fallen. Ich habe für meinen Erfolg gearbeitet! Und dass die Andrees das Kleid haben wollte, war dann eben ein bisschen Glück.
Leider bringe ich kein einziges Wort heraus. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich fixiere meine Schuhspitzen. Das hilft mir, nicht jammernd zusammenzubrechen. Alles, was sie mir da unterstellt – Neid und Betrug und Intrige – das ist mir völlig fremd.
Ich bin doch ein Sonnenschein! Hat die Senner das in drei Jahren wirklich nicht gemerkt?
»So ein talentiertes Mädchen wie dich habe ich noch nie ausgebildet«, fährt sie fort, während ich weiter um Fassung ringe. »Ich finde, nach all dem, was du gestern angerichtet hast, bist du mir etwas schuldig.«
Ganz langsam hebe ich den Kopf und schaue ihr in die Augen. Sie lächelt jetzt, aber es sieht nicht herzlich aus. »Was soll ich denn machen?«
»Bring mir Aufträge!«
»Was für …«
»Du wirst dafür sorgen, dass in meiner Werkstatt jetzt auch Mode produziert wird.«
»Ich? Wie soll ich das denn machen?«
»Fang bei Eva Andrees an! Geh zu ihr! Entschuldige dich! Küss ihr die Füße! Das ist mir egal. Hauptsache du kommst mit einem Auftrag für ein Kleidungsstück wieder.«
Ihre Forderungen fliegen mir um die Ohren wie Gewehrkugeln. »Frau Senner«, krächze ich. »Das kann ich nicht.«
»Oh doch! Das kannst du. Die Leute werden dich lieben – deine süße Sommersprossennase, blaue Augen, blonde Haare – so unschuldig wie ein Kleinkind. Man sieht dir nicht an, wie gerissen du bist. Und das will ich jetzt ausnutzen.«
So etwas hat mir noch nie jemand gesagt. Plötzlich bin ich die Hexe mit dem Engelsgesicht.
»Du hast die Wahl. Entweder du tust, was ich sage und bekommst die Stelle bei mir«, fährt sie fort.
Oder was?
Ihre Augen glänzen hart wie Stahl, während sie weiterredet. »Leider kann ich sonst nicht garantieren, dass du die Prüfungen bestehen wirst. Vergiss nicht, dein Gesellenstück ist zerrissen. Ausschuss sozusagen.«
Warum sage ich ihr nicht, dass sie sich ihre Stelle und den Abschluss sonst wohin schieben kann und gehe einfach?
Ich hole tief Luft, aber es kommt kein Ton aus mir heraus. In zwei Wochen bin ich fertig mit meiner Lehre. Ich kann doch jetzt nicht alles hinschmeißen! Meine fünfte Ausbildung und wieder ohne Abschluss? Meine Eltern bringen mich um. Und außerdem will ich doch unbedingt Schneiderin sein!
Helena Senner hat meine Zukunft in der Hand. Sie will mich benutzen, um ihren alten Traum wahr zu machen, und ich bin machtlos.
Sie starrt mich herausfordernd an. Was soll ich nur tun?
Ich nicke gehorsam. »Ich bringe Ihnen Aufträge«, sage ich leise. Ich habe jedoch nicht die geringste Ahnung, wie ich das schaffen soll. »Aber Sie müssen mir bitte glauben, dass ich das Kleid nicht kaputt gemacht habe.«
Sie zuckt die Schultern. »Es ist kaputt«, sagt sie kalt. »Egal wie. Dein Kleid hat nicht gehalten, was es versprach. Jetzt streng dich an.«
Ein paar Minuten später sind wir zurück bei den anderen. Die Chefin sieht so zufrieden aus wie eine Katze, die am Sahnetopf genascht hat. Nora und Annemarie tuscheln und suchen mein Gesicht nach Tränenspuren ab. Bin ich froh, dass ich es dieses Mal geschafft habe, nicht zu heulen! Lila sitzt allein auf einem umgestürzten Baumstamm und knabbert lustlos an einem Hühnerflügel.
»Was hat die Senner gesagt?«, fragt sie, als ich mich neben sie plumpsen lasse.
Ich stehe unter Schock. Aber instinktiv weiß ich, dass es besser ist, mit niemandem über Helena Senners Erpressung zu reden. Es würde mir sowieso keiner glauben. »Ach nichts«, wiegele ich also
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