Glückskind (German Edition)
ich wollte, dass sie bloß eine Puppe wäre, damit ich meine Ruhe hätte. Fast hätte ich sie dagelassen!«
»Aber das haben Sie nicht«, sagt Frau Tarsi sanft. »Das haben Sie nicht.« Sie tut, als schaue sie sich um. »Wo ist sie denn, darf ich sie einmal sehen?«
»Natürlich«, schnieft Hans und erhebt sich. Er tut es sehr langsam und stützt sich dabei auf der Tischplatte ab. Die Tarsis bemerken seine Schmerzen und wechseln erneut einen Blick. Hans will vorausgehen, aber die Tarsis zögern. »Kommen Sie mit«, sagt er, »ich habe kein Geheimnis mehr.« Gemeinsam gehen sie ins Schlafzimmer, wo Felizia schläft und leise schnauft.
Frau Tarsi ist entzückt, sie beugt sich über Felizia und streichelt ihr sanft über die kleine Wange. Herr Tarsi steht dabei und lächelt. Und Hans verspürt ein plötzliches Glücksgefühl. Es hat nichts mit ihm und seiner Rolle als echter falscher Großvater zu tun, es hat überhaupt nichts mit ihm zu tun. Er ist glücklich, weil dieses kleine Kind, das ganz verlassen war, nun von drei freundlichen Menschen umringt ist. Der Moment verfliegt wie ein schwaches Parfum, Hans würde ihn gerne festhalten, aber als er zugreift, sind seine Hände leer. Zurück bleibt der Rückenschmerz, zurück bleiben zwei Fremde in seinem Schlafzimmer und ein schlafendes Kind, dessen Zukunft wie ein Blatt im Wind ist.
Leise gehen die drei Erwachsenen wieder ins Wohnzimmer. Dort stehen sie unschlüssig herum. Frau Tarsi greift nach ihrer leeren Basttasche. Hans will sie zu etwas einladen, aber er weiß nicht zu was. »Gut«, sagt Herr Tarsi, »wir wollen Sie nicht länger stören, Sie sehen müde aus. Morgen bringt meine Frau Ihnen etwas zu essen, eine Spezialität von ihr.«
Hans will eine der üblichen höflichen Abwehrformeln aussprechen, aber in Wahrheit ist er überwältigt von der Herzlichkeit dieser Menschen, die seit so vielen Jahren neben ihm gewohnt haben und über deren Leben er fast nichts weiß. Als die Tarsis schon zur Wohnungstür hinaus sind, sagt er: »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Aber natürlich!«, ruft Herr Tarsi aus.
»Sind Sie Afghanen oder Perser?«
Beide lächeln sie jetzt. »Aus dem Iran«, sagt Frau Tarsi, und der Name des Landes klingt ganz anders aus ihrem Mund, als Hans es gewohnt ist. »Mein Mann und ich sind Bahai, das ist eine Religion dort, eine Abspaltung des Islam, ganz jung, noch nicht einmal zweihundert Jahre alt.«
»Wir mussten fliehen, meine Frau und ich, das ist schon viele Jahre her, als Khomeini an die Macht kam. Haydee, unsere Tochter, ist hier geboren. Sie ist mehr Deutsche als Perserin.« Herr Tarsi lächelt, Frau Tarsi lächelt auch, aber Hans hat den Anflug von Trauer in ihren Gesichtern gesehen. Sie verabschieden sich voneinander, Hans schließt seine Wohnungstür.
Die Tarsis haben auch etwas verloren, denkt er, als er ins Badezimmer humpelt. Der Schmerz strahlt in sein rechtes Bein aus, es fühlt sich schwach an, die Wade ist schon taub. Ein ganzes Land haben sie verloren. Eltern, Großeltern, Verwandte, viele Menschen. Hans betrachtet sich im Spiegel. Ein grauer Schimmer hat sich auf seinem rasierten Schädel gebildet, eine Art Drei-Tage-Haar. Er ähnelt ein wenig einem Igel, findet Hans. Dieselben Stoppelhaare hat er im Gesicht. Und sein Gesicht ist das Gesicht eines alten Mannes mit krummem Rücken. Die Falten wirken tiefer und zahlreicher. Ein Leidensausdruck hat sich in seine Züge gegraben. Aber wenn er ehrlich ist, hat der Rückenschmerz ihn nur besser zum Vorschein gebracht. Denn dieser Ausdruck kommt ihm bekannt vor. »Zu viel Selbstmitleid seit zu langer Zeit«, murmelt Hans. Er sucht nach Schmerztabletten. Aber er hat schon seit Jahren keine mehr, und er weiß es. Seine suchenden Gesten sind leer, sie haben keine andere Bedeutung als die der Ausführung. Eine mechanische Erinnerung an jene Zeit, als sie noch Sinn hatten, denkt er. Ein Handlungsecho, denkt er. Er stützt sich mit beiden Händen am Waschbecken ab und schaut in den Spiegel. »Wer bist du, dass ich dich noch nicht zum Teufel gejagt habe?«, sagt er. Er denkt an seine Frau, die genau das getan hat. Vielleicht hast du dich nur vor mir gerettet, denkt er. Und die Kinder gleich mit. »Aber ich wusste es doch nicht besser!«, herrscht er sein Spiegelbild an. »Wie hätte ich es dann besser machen sollen?« Darauf gibt es keine Antwort. Langsam, ohne sich aus den Augen zu lassen, greift Hans zum Rasierapparat und schneidet erneut alles Haar ab, das auf dem Kopf, die Stoppeln im
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