Glückskind (German Edition)
Gesicht. Dann wäscht er sich, putzt sich die Zähne, geht zu Bett. Er legt sich vorsichtig neben Felizia, die im Schlaf an ihrem Schnuller nuckelt.
Vielleicht träumt sie von der Brust ihrer Mutter, denkt Hans und wird traurig und hat zugleich das Gefühl, jemand müsse diese Trauer für Felizia fühlen, damit sie es nicht selbst tun muss. Sein rechtes Bein fühlt sich kalt an, seine Wade kribbelt, als wäre sie eingeschlafen. Vielleicht ist es schon lange so, denkt Hans, dass ein Teil von mir schläft. Aber ausgerechnet ein Bein? Morgen, denkt er träge, kaufe ich Schmerztabletten. Kurz bevor er einschläft, sieht er vor seinem inneren Auge eine Frau zwischen Gitterstäben sitzen. Es muss Eva M. sein, denn sie hat eine Zeitung auf dem Kopf, er kann ihr Gesicht nicht erkennen, aber jetzt hat er den Eindruck, dass sie sich vor ihm, Hans D., verbirgt, dass sie sich vor ihm, Hans D., schämt, nicht vor der Weltöffentlichkeit. Das kann Hans gut verstehen und er will ihr sagen: Sieh mich an! Vor mir musst du dich nicht schämen. Aber da schläft er ein.
Hans träumt von der Tür im roten Fels. In der Ferne thront der schneeweiße Vulkan, der aussieht wie der Fudschijama. Wieder weiß er, dass er schläft, er weiß, dass er auf dem Rücken liegt, er weiß, dass er sich nicht im Bett drehen kann, weil der Schmerz ihn sofort weckt. Er hört Felizia schnaufen und schmatzen. Er träumt, dass die Tür im roten Fels sich nicht öffnen lässt. Er rüttelt daran, er zieht mit aller Kraft, aber die Tür ist massiv und verschlossen. Er zaubert sich Sprengstoff herbei, und während er das tut, denkt er an seinen Sohn Rolf, der immer zaubern wollte, weil er dachte, das Leben wäre auf diese Weise leichter. Er will ihm zurufen: Sieh doch mal, Rolf, ich kann es jetzt! Stattdessen detoniert der Sprengstoff und schneidet ihm das Wort ab. Die Tür ist fort, Hans steht vor einem Loch. Jetzt, denkt Hans, werde ich ja herausfinden, wie hohl dieses Gebirge wirklich ist. Dann verschwindet alles und er fällt in einen traumlosen Tiefschlaf. Irgendwann wird Felizia wach, Hans steht im Halbschlaf auf, bereitet ihr eine Flasche zu, gibt sie ihr, beide schlafen wieder ein. Das wiederholt sich noch zweimal. Träume gibt es keine mehr, nicht bei Hans und nicht bei Felizia.
Am nächsten Morgen wird Hans früh geweckt. Jemand hat an der Tür geläutet. Hans kommt nur sehr langsam hoch. Sein rechtes Bein ist von oben bis unten taub. Immerhin gehorcht es ihm noch. Der untere Rücken sticht und brennt und fühlt sich von innen wund an. Langsam hinkt Hans durch den Flur zur Wohnungstür. Bevor er öffnet, zieht er sich seinen alten Mantel über. Vor ihm steht die kleine Frau Tarsi mit einem großen, beladenen Frühstückstablett. Sie hat selbst gemachte Karottenmarmelade, Kürbismarmelade, eine bauchige Kanne mit süßem Tee, einen ganzen Stapel Fladenbrote und eine Schale mit persischem Haferbrei mitgebracht und strahlt ihn stolz aus ihrem runden Gesicht an. »Guten Morgen, Großpapa!«, ruft sie und marschiert unaufgefordert an ihm vorbei in die Küche. Dort stößt sie auf die Wäsche ihrer Tochter, die Hans am Vorabend nicht weggeräumt hat. Hans, der ihr hinterhergehinkt ist, sucht noch nach einer Erklärung, die nicht peinlich ist, aber Frau Tarsi sagt: »Kein Wort!«
Sie stellt das Tablett auf einen Stuhl, nimmt einen Wäschestapel und geht zielstrebig in die Diele zu Hans’ Kleiderschrank. »Woher wussten Sie…?«, beginnt Hans. Frau Tarsi unterbricht ihn lachend. Sie ruft: »Sehen Sie hier ein anderes Möbelstück, in dem man Wäsche unterbringen kann?« Dann blickt sie nachdenklich in den Schrank, denn er ist ziemlich voll. Sie beginnt, die Wäsche umzuordnen. Hans steht hilflos daneben und fühlt sich wie ein Junge, der seinen Spind nicht aufgeräumt hat und jetzt entlarvt ist. Dabei hatte er doch alles neu geordnet. Aber in Gegenwart von Frau Tarsi sieht er es plötzlich mit anderen Augen. Er sucht nach Erklärungen für die Unordnung, findet aber nur Phrasen, denen er selbst keinen Glauben schenkt. Deshalb schweigt er lieber. Frau Tarsi macht es ihm leicht, denn sie hält sich nicht mit Kommentaren auf. Nach ein paar Minuten ist der Kleiderschrank neu organisiert, Platz ist geschaffen, erstaunlich viel Platz, Hans ist ganz verwundert darüber, wie leicht es ihr gefallen ist. Er will etwas Anerkennendes sagen, aber Frau Tarsi beginnt schon, hin- und herzulaufen und Felizias neue Kleider einzuordnen. Als sie fertig ist, bleibt sie
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