Glückskind (German Edition)
ihren vielen Dingen und das Fenster mit seinem Himmel, der heute nicht blau ist, sondern grau vom Hochnebel, hoffentlich lichtet sich der noch, denkt Hans, als er ihren Blicken gefolgt ist. Die beiden Erwachsenen beobachten das Baby, sie lächeln einander an wie Großeltern und dann sagt Frau Tarsi: »So, Frau Tarsi sagt jetzt: Genug gefrühstückt, ich sehe, Sie sind satt. Jetzt gehen Sie zum Arzt und ich nehme dieses kleine Mädchen mit nach drüben.« Sie steht mit Felizia im Arm auf. Hans packt noch schnell ein paar Windeln, eine Trinkflasche und einen Beutel mit Milchpulver in eine Tüte und reicht sie ihr. »Das Tablett räumen wir hinterher ab«, sagt sie im Weggehen. Dann marschiert sie hinaus und Hans sieht ihr nach. Er ist erleichtert, weil er sich in seiner schlechten Verfassung nicht um Felizia kümmern muss. Er duscht, zieht sich frische Kleider an und macht sich auf den Weg. Im Fahrstuhl trifft er auf einen Nachbarn und grüßt ihn.
Er fühlt sich wie ein ganz normaler Bürger mit Rückenschmerzen, der zum Arzt geht. Das ist ein gutes Gefühl. Er hat ein Ziel, sein Leben einen Sinn. Er weiß, wohin er gehen muss. Zunächst einmal zur U-Bahn-Station. Dann mit der U4 in sein altes Viertel. Zu Doktor Martin, der dort hoffentlich immer noch seine Praxis hat. Hans weiß es nicht, er geht einfach los und redet sich ein, dies sei nun einmal seine Art. Er hätte Frau Tarsi natürlich fragen können, ob er ihr Telefonbuch und ihr Telefon benutzen darf. Bestimmt hat sie sogar ein Handy, überlegt er. Dann hätte er sofort erfahren, ob Doktor Martin noch dort ist, wo er früher war. Aber wenn ich ehrlich bin, denkt Hans, wollte ich es gar nicht wissen. Die U-Bahn-Station kommt in Sicht. Die Menge der Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, nimmt zu, aber Hans fürchtet sich nicht. Er ist nur einer von vielen, und als er die Rolltreppe hinunterfährt, hat er ein Gefühl von Zugehörigkeit, von geteiltem Schicksal. Von Geborgenheit unter Fremden. Plötzlich erinnert er sich an den Traum, den er letzte Nacht hatte. Das Loch im Gebirge. Die Stadt ist auch so ein Gebirge, denkt er jetzt. »Aber andersherum«, verbessert er sich selbst und nickt bestätigend. Ja, andersherum, denn die Stadt ist von innen hohl, das weiß jeder. Aber dass sie ebenso massiv und undurchdringlich sein kann, das wissen nicht so viele, dessen ist Hans sich gewiss. Das wissen nur die wenigen Obdachlosen – die unbehausten und die vielen behausten, Leute wie er. Aber heute fühlt er sich gar nicht dazugehörig, heute fühlt er sich wie jemand, der ein Zuhause hat. Und fast hat er sogar das Gefühl, dass dort eine Familie auf ihn wartet.
Das Tageslicht schwindet, als Hans auf der Rolltreppe in die Station einfährt, und wird ersetzt durch weißen Neonschein. Es riecht eigentümlich, Hans erkennt den Geruch sofort wieder, obwohl es schon ein paar Jahre her ist, dass er zum letzten Mal hier unten war. Menschen gehen zielstrebig kreuz und quer, jeder verfolgt eine unsichtbare Bahn, man sieht nur einen winzigen Ausschnitt, so winzig, dass es chaotisch wirkt. Aber Hans weiß, dass es das nicht ist. Dass alle diese Menschen auf festen Wegen unterwegs sind, auf Wegen, die sie Tag für Tag zurücklegen. Wenn ein jeder eine Spur in seiner Farbe hinterließe, dann könnte man ihn durch die ganze Stadt verfolgen, um zu sehen, woher er kommt, wohin er geht, und man wüsste doch nichts über ihn. Hans wird schwindelig von der vielen Bewegung und von seinen vielen Gedanken, die von der vielen Bewegung in Schwingung versetzt werden und sich nun auch schneller zu bewegen scheinen. Er konzentriert sich auf den Schmerz in seinem Rücken, Um den geht es hier, denkt er und nähert sich einem Fahrkartenautomaten.
Das System hat sich geändert, die Preise sind gestiegen, Hans braucht eine Weile, bis er die Erklärungen versteht und die richtige Tastenkombination eingeben kann, um einen Fahrschein zu kaufen. Anschließend geht es tiefer hinein ins Gebirge, über eine weitere Rolltreppe, die viel länger ist als die erste, ein richtiger Schacht in den Abgrund. Hans fährt hinab mit dem Gefühl, sich zu stellen. Der Stadt, den Menschen, der Welt. Sich selbst. Als er unten ankommt, folgt er dem Menschenstrom, der sich bald aufteilt und bald vereinigt mit einem weiteren Menschenstrom, der aus einem anderen Gang hereinfließt. Dann münden sie auf dem Bahnsteig und bleiben stehen wie gestautes Gewässer. Der Bahnsteig wird immer voller, in Hans’ Rücken weht mit einem
Weitere Kostenlose Bücher