Glückskind (German Edition)
sie auf seinem Arm ein, so erschöpft ist sie. Auch Hans ist es. Er legt Felizia wieder ins Bett und will sich schon dazulegen. Doch da läutet es an der Wohnungstür. Er verharrt. Wer kann das sein, denkt er. Herr Wenzel schon wieder? Wie lästig. Oder hat Herr Wenzel entschieden, dass Hans es nicht schafft, und hat doch die Polizei gerufen? Schon bereut er, nicht mit Herrn Wenzel zum Arzt gegangen zu sein, aus strategischen Gründen gewissermaßen. Zögernd und vor Schmerzen gebeugt nähert er sich der Wohnungstür. In der Tür befindet sich ein Spion, Hans späht hindurch. Draußen steht Herr Tarsi. Hans öffnet die Tür. Neben Herrn Tarsi steht dessen Frau, die so klein ist, dass Hans sie durch den Spion nicht hat sehen können. Klein und rund ist Frau Tarsi, und klein und rund ist auch ihr Gesicht. Sie hat ihr Haar im Nacken zu einem Dutt geknotet, was das Runde ihres Gesichts noch verstärkt. Die Tarsis lächeln Hans freundlich an. Herr Tarsi sagt: »Entschuldigen Sie die späte Störung, aber wir, meine Frau und ich, wir haben uns gedacht: Jetzt, wo die Enkeltochter da ist, können wir auch ein bisschen helfen.« Er lächelt Hans an und Frau Tarsi hebt eine große Basttasche, die sie in der Hand hält. Hans ist überrumpelt. Er braucht ein paar Sekunden, um die Situation zu begreifen. Aber die Tarsis lassen ihm kaum Zeit, sie wollen hereinkommen, das spürt Hans wie einen Druck, der ihn zurück in die Wohnung drängt, obwohl sich die beiden gar nicht bewegen. Noch vor drei Tagen hätte Hans niemanden freiwillig hereingelassen. Er sagt: »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, und denkt: Nein, umgekehrt: Niemand hätte hereinkommen wollen. Und jetzt: drei Fremde an zwei Tagen.
»Kommen Sie doch herein«, sagt Hans. Er weicht ein wenig zurück und macht seine Wohnungstür weit auf. Herr und Frau Tarsi lächeln erleichtert, denn so muss sich diese Situation entwickeln, damit alles richtig ist.
Frau Tarsi hat Kleider ihrer Tochter dabei. Die Basttasche hat ein erstaunliches Fassungsvermögen, als Frau Tarsi alles hervorgeholt hat, ist der Küchentisch voller Wäsche. Sie stemmt die Hände in die Hüften und schaut ihn zufrieden an. »Das alles«, sagt sie, »sollte für die Tochter meiner Tochter sein.« Sie hebt die Hände. »Aber sie hat einen Sohn bekommen!«, ruft sie mit gespielter Empörung und schüttelt den Kopf. »Kinder tun nie, was man von ihnen erwartet.«
»Und jetzt?«, fragt Hans.
»Jetzt«, sagt Herr Tarsi, »ist das alles für die kleine Felizia Marie.«
Wie er das sagt! Felizia Marie! Hans zuckt innerlich zusammen.
»Aber«, stammelt Hans unbeholfen, »meine Tochter wird doch irgendwann zurückkommen, und dann…«
»… und dann«, unterbricht Frau Tarsi ihn resolut, »darf sie alles mitnehmen.«
»Und wenn sie nicht kommt«, ergänzt Herr Tarsi lächelnd, »dann bleibt alles bei Ihnen.«
Hans lässt sich auf einen Stuhl sinken. Er fühlt sich wie ein überführter Verbrecher. Langsam sagt er: »Sie wissen also Bescheid, Sie beide, nicht wahr?«
Herr und Frau Tarsi wechseln einen Blick. Dann sagt Herr Tarsi langsam: »Seien Sie uns bitte nicht böse. Wir bewundern Sie für das, was Sie getan haben, für das, was Sie tun.«
Hans schaut ihn erstaunt an.
Herr Tarsi nickt mit Nachdruck. »Ja, ja«, sagt er, »das ist etwas ganz Besonderes. Etwas Heiliges.«
»Meinen Sie das ernst?«, fragt Hans ungläubig. »Aber natürlich!«, ruft Herr Tarsi beinahe entrüstet aus. »Wer hilft denn heutzutage einem anderen Menschen, wenn er dafür sein ganzes Leben ändern muss? Und Sie haben das getan.«
Hans sagt: »Aber Felizia hat doch auch mich gerettet. Das ist doch ganz egoistisch.«
»Na, na!«, sagt Frau Tarsi, als wäre sie ungeduldig. »Jetzt seien Sie nicht so hart gegen sich selbst. Als Noah die Tiere in der Arche rettete, da rettete er auch sich selbst.« Sie hebt wieder die Hände. »Ohne die Tiere wäre er doch verhungert!«, ruft sie aus.
Fast schüchtern erwidert Hans: »Aber Felizia ist doch ein Mensch.« »Umso besser funktioniert das Retten«, sagt Frau Tarsi im Tonfall einer Richterin, die ihr Urteil spricht.
»Machen Sie es nicht kleiner, als es ist«, sagt Herr Tarsi. Er beugt sich zu Hans und legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Es ist etwas ganz Großes, was Sie da tun.«
Da beginnt Hans zu weinen. Herr und Frau Tarsi schauen ihn bestürzt an. Schluchzend sagt Hans: »Und dabei wusste ich sofort, dass sie keine Puppe war, als sie da im Müll lag. Aber ich wollte nicht,
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