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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Uhly
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rohe Kampf der Körper tobt hier, sondern der subtile der Geister, die in diesen Körpern hocken und alles taxieren, alles bewerten, alles für gut oder nicht gut befinden, für sympathisch oder unsympathisch, normal oder unnormal, bekannt oder fremd, hochwertig oder billig. Cool oder uncool. Erfolgreich. Erfolglos. Attraktiv. Hässlich. Interessant. Langweilig. Hans schließt die Augen, aber sofort denkt er, was sollen die denken über einen, der einfach die Augen schließt. Das ist doch nicht normal, das tut man nicht in der Öffentlichkeit. Er öffnet die Augen wieder und versucht, vor sich hin zu starren. Aber er fühlt sich immer noch beobachtet. Das kann gar nicht sein, denkt er plötzlich. Niemand kennt dich, niemand interessiert sich für dich, du bist niemand. Alle sind niemand für alle anderen.
    »Entspann dich doch mal!«, sagt Karins ungeduldige Stimme in seinem Kopf. Wie oft hat er diesen Satz gehört. Er hat immer nur darauf geachtet, dass sie selbst nicht entspannt war, wenn sie ihn sagte. Das warf er ihr vor, und er hatte recht. Aber es war nichts wert, recht zu haben, wenn er damit nur die Wahrheit leugnete. Hans schüttelt den Kopf. Nichts hat sich geändert. Er ist immer noch genauso misstrauisch und ohne Selbstsicherheit, kreist immer noch genauso um sich selbst wie damals. Nimmt immer noch alles persönlich. Kann sich immer noch nicht entspannen. Du hast deine Zeit verschwendet, Hans, denkt er. Die Wucht dieser Erkenntnis erfüllt ihn mit so großer Trauer, dass er beginnt, mitten unter all diesen Fremden stumm vor sich hin zu weinen über sein vergeudetes Leben. Es ist ihm jetzt gleich, wer ihn wie und mit welchen Gedanken beobachtet. Es ist, als hätte die Trauer alle Verhältnisse zurechtgerückt.
    So kehrt Hans traurig in jenes Viertel zurück, in dem er vor einer Ewigkeit mit seiner Familie gelebt hat. Es liegt am anderen Ende der Stadt, ganz im Süden. Das Erste, was er sieht, als er die U-Bahn-Station verlässt, ist die Sonne. Der Hochnebel hat sich gelichtet, alles erscheint in einem goldenen Glanz, ein guter Anfang, denkt Hans. Das Zweite sind die Pflanzen. Bäume, Hecken und Sträucher sind groß geworden, das Viertel sieht nicht mehr aus wie eine Neubausiedlung, sondern eher wie ein gebrauchter Gegenstand, nicht mehr sauber, nicht mehr unbenutzt, aber persönlicher und wärmer. Hans erkennt die Häuser und Straßen wieder, Reihenhäuser sind es, die alle einmal genau gleich aussahen, weiß getüncht, Thermopenfenster mit Rahmen aus Plastik, zwei unten, zwei oben, darüber das Satteldach, das aussieht wie ein langer Deckel, der über viele Schuhkartons gestülpt worden ist. Die Häuser sind nicht einmal versetzt, eine gerade Front bilden sie, allein die Regenrinnen grenzen die einzelnen Eigenheime voneinander ab. Früher unterschieden sie sich nur durch ihre jeweilige Lage und ihre Hausnummern voneinander. Doch die Menschen haben seitdem daran gearbeitet, dies zu ändern. Sie haben ihre Häuser in unterschiedlichen Farben gestrichen, sie haben die Aluminium-Haustüren durch bessere Modelle ersetzt, jeder hat sich seinen Vorgarten so eingerichtet, wie er glaubte, es tun zu müssen, und heute sieht es hier fast schon bunt aus. So ist es immer, denkt Hans. Wir kommen alle auf die gleiche Weise zur Welt, aber dann gehen unsere Wege auseinander. Und wir bleiben trotzdem nebeneinander auf dem Bahnsteig stehen und warten darauf, dass uns irgendein Zug hier fortholt. Jetzt wird er schon zum Philosophen, der Hans, denkt Hans abschätzig, aber die Trauer holt in sofort wieder ein und gibt ihm recht. Er biegt wie selbstverständlich in eine kleinere Wohnstraße ab, die ihn nicht zu Doktor Martin führt, sondern an jenen Ort, der einmal sein Ausgangspunkt für alles war.
    »Doktor Martin war nur ein Vorwand, gib’s zu«, murmelt Hans, und Hans gibt es zu und denkt: Aber es musste sein, sonst wäre es nicht gegangen. Und warum wolltest du hierherkommen, ausgerechnet jetzt, da du Felizia hast, ausgerechnet mit einem Hexenschuss? Der Lieblingssatz seiner Frau fällt ihm wieder ein: »Alles hängt mit allem zusammen, Schatz.« Hans runzelt die Stirn. »Das geb ich nicht zu«, sagt er trotzig vor sich hin. Aber es ist wahr: Seit Felizia in sein Leben gekommen ist und er wieder in der Gegenwart lebt, seit er überhaupt wieder lebt und nicht bloß langsam endet, ist ihm die Vergangenheit auf den Fersen, oder er ihr. Wie das bloß miteinander zusammenhängt?, fragt Hans sich und findet auf die Schnelle

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