Glückskind (German Edition)
Mal ein starker Wind. Er kommt aus dem Tunnel, es ist Luft, die geschoben wird von einem Getöse, das nun hereindringt in die große Halle. Und dann rauscht der Zug an, der in die Gegenrichtung fährt. Es ist ein gewaltiges Schauspiel für Hans, er fühlt sich, als hätte er jahrelang im Gefängnis gesessen oder wäre wirklich auf einer einsamen Insel gestrandet gewesen wie Robinson Crusoe und erst jetzt wieder zurück in der Zivilisation.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt, er hält an, die Türen öffnen sich alle gleichzeitig mit einem lauten Knall, dann strömen Menschen heraus und bilden sofort einen Strom, der in zwei Richtungen fließt, Hans steht ungünstig oder günstig, er weiß es nicht genau, denn die Menschen aus dem Zug gehen ganz dicht an ihm vorbei. Hans sieht ihre Gesichter, routiniert verschlossene, routiniert entschlossene Gesichter auf Körpern, die zu marschieren scheinen, jeder einzelne in seinem eigenen unsichtbaren Gleichschritt mit den Erfordernissen des Tages, der Aufgabe, der nahenden Zukunft und der unvollendeten Gegenwart. Hans ist fremd hier, das fühlt er wie eine plötzliche, schmerzhafte Erkenntnis. Er wird nie Teil dieses Stroms sein, nie eins mit diesen Gewässern, und er ist es nie gewesen. Nicht einmal in seiner Kindheit. Aber während er dies denkt, sieht er, wie unterschiedlich die Menschen sind, die ihn umgeben. Die beiden Schülerinnen mit den Kopfhörern, die vor ihm stehen und warten, haben nichts zu tun mit dem dicken Herrn im Anzug, der ein Stück weiter links von einem Bein auf das andere tritt. Alle drei haben nichts zu tun mit der alten Frau im beigen Mantel mit Hut, die sich auf einen Stock stützt und unbewegt in die Richtung schaut, aus der der Zug kommen wird. Vier Menschen sind es nun und sie haben nichts zu tun mit den drei Japanern, die sich lebhaft in ihrer Sprache unterhalten und dabei immer wieder lachen. Nichts haben sie zu tun mit der jungen Mutter, die ihren Kinderwagen vor und zurück schiebt und dabei gelangweilt oder bedrückt aussieht. Ich könnte immer weitermachen, denkt Hans, immer käme dasselbe heraus. Niemand hat mit niemandem etwas zu tun, wir stehen hier gar nicht gemeinsam, wir stehen hier alle wie allein gestrandet. Nun kommt ein Wind aus der anderen Richtung und kündigt die U-Bahn an. Als der Zug donnernd einfährt, formieren sich die Menschen, ein jeder versucht, beizeiten die Tür vorauszuahnen, die ihm am nächsten sein wird, um sich so günstig wie möglich zu postieren, und als der Zug zum Stehen kommt, bilden sich Trauben links und rechts der Türen, die aufspringen und eine geballte Menschenmenge entlassen. Hans ist ergriffen worden vom Sog zu den Türen, er steht mitten in einer dieser Menschentrauben, die darauf warten, dass die Aussteigenden endlich fort sind, der Zufall will es, dass die beiden Schülerinnen gleich neben ihm stehen. Es ist eng, nun schieben sich alle gleichzeitig Richtung Eingang, es ist noch keine Reihenfolge erkennbar, es muss alles auf ein Gedränge hinauslaufen, auf einen Kampf aller gegen alle, auf den Sieg der Starken über die Schwachen, der Groben über die Zarten. Furcht ergreift Hans, Furcht, nicht hineinzukommen, Furcht, die U-Bahn zu verpassen, weil die anderen ihn nicht lassen. Furcht, sogar an dieser Aufgabe zu scheitern. Schon will er die Flucht nach hinten antreten, nur raus aus der Menschenmenge, nur fort aus diesem Höhlenlabyrinth, aus dieser Enge, diesem muffigen Untergrundgeruch, wo überall die Dunkelheit hockt, überall die Ausweglosigkeit. Aber da schaut ihn eine der beiden Schülerinnen freundlich an und bleibt stehen, so dass er vor sie zu gehen kommt, und ehe Hans noch weiß, wie es eigentlich möglich wurde, hat er die Schwelle übertreten und ist im Zug. Jetzt erst bemerkt er, dass er am ganzen Körper schwitzt. Er hält sich an einer Stange fest, der Zug ist so voll, dass er sich nicht bewegen kann. Er schaut sich um und trifft auf lauter Blicke von Menschen, die sich umschauen. Bald schon weiß er nicht mehr, wohin er seine Augen richten soll, ohne nicht auf andere Augen zu stoßen, die ihn fixieren. Eine Stimme aus dem Lautsprecher sagt: »Bitte zurückbleiben!« Dann schließen sich die Türen und der Zug nimmt Fahrt auf.
Hans sieht aus dem Fenster, doch als der Zug in den Tunnel fährt, wird das Fenster zum Spiegel und dort trifft er wieder auf Augen, die beobachten, die zurückäugen. Erneut spürt er, wie die Angst ihn umklammert, doch es ist eine andere Angst. Nicht mehr der
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