Glückskind (German Edition)
wissen. Anne hat sich ihm gegenüber hingesetzt und die Hände gefaltet. Sie sieht verlegen aus. Sie sagt: »Sie leben beide nicht mehr hier.«
Sie zögert.
Sie sagt: »Sie sind schon seit über zehn Jahren getrennt. Tut mir leid, dass du umsonst gekommen bist.«
Hans sieht Anne an. Sie hat immer noch etwas Mädchenhaftes, findet er. Langsam sagt er: »Wenn du sie siehst, dann kannst du ihnen ja schöne Grüße von mir ausrichten.«
Sie sieht ihn an wie jemand, der versucht, nicht zu sagen, was er denkt. Aber dann sagt sie: »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Hans. So wie du damals einfach verschwunden bist.«
»Oh«, sagt Hans, »sag ihnen, dass es mir leid tut. Ich war damals in keiner guten Verfassung.«
Sie sieht ihn jetzt offen an. »Aber Hans. Du hast zwei Monate lang bei uns gewohnt.«
»Karin hatte das Haus ja einfach verkauft.«
Anne schüttelt ungeduldig den Kopf. »Das weiß ich alles. Aber …«, sie sucht nach Worten, sie sagt: »Wir haben uns zwei Monate lang nur um dich gedreht. Ich meine: Erinnerst du dich an dich selbst, Hans? Du warst nur noch ein Häufchen Elend. Meine Eltern haben sich rund um die Uhr um dich gekümmert. Sogar ich habe dich getröstet, obwohl ich selbst Trost gebraucht hätte. Immerhin war Hanna meine beste Freundin. Und es war deine Schuld, dass sie plötzlich fort war und dass sie mir nicht einmal etwas darüber sagen durfte, damit meine Eltern nichts erfahren, denn ihr wart ja sooo gut befreundet miteinander.« Anne starrt ihn erbost an.
Wäre ich doch nicht hergekommen, denkt Hans. Vorsichtig sagt er: »Hast du noch Kontakt zu Hanna?«
Anne sagt kühl: »Deshalb bist du gekommen, nicht wahr? Um etwas über deine Kinder zu erfahren, oder? Warum sagst du es nicht gleich?«
Hans seufzt. Er sagt: »Anne, ich war die letzten Jahre obdachlos.« Anne sieht ihn erschrocken an.
Er sagt: »Aber jetzt geht es mir wieder gut. Ich wohne im Norden und habe …« Er stockt. Er sagt: »… gute Freunde gefunden und kann mich jetzt wieder mit damals beschäftigen.«
Sie starrt ihn eine Weile an. Dann nickt sie und erhebt sich. Es ist eine Aufforderung zu gehen. Hans erhebt sich ebenfalls.
Sie sagt: »Danke, dass du gekommen bist. Ich werde meinen Eltern deine Grüße ausrichten. Aber erwarte nicht, dass ich dir Hannas Adresse oder ihre Telefonnummer gebe.«
Hans hebt beschwichtigend die Hände. »Nein, nein«, sagt er schnell, »das erwarte ich nicht von dir.« Er überlegt. »Aber vielleicht«, sagt er, »kannst du ihr von mir ausrichten, dass es mir sehr leid tut.« Er überlegt. »Und dass ich jetzt weiß, dass ihre Mutter damals das Richtige tat.« Er atmet tief durch. »Ja«, sagt er dann und nickt mit Nachdruck, »sag ihr, dass ich das jetzt weiß.« Er schaut Anne an. Wie sehr sie ihrer Mutter gleicht, denkt er. Wie wenig sie von dem weiß, was damals wirklich geschehen ist, denkt er. Sie tut ihm leid, und dabei hatte er sie bereits vergessen. Er gibt ihr die Hand zum Abschied und verlässt die Nummer 28 und steht wieder draußen auf der Straße und weiß endlich, warum er gekommen ist. Das Schicksal meint es gut mit dir, denkt Hans und meint sich selbst und meint es, weil das Schicksal ihm Anne geschickt hat, die jetzt seine Botin sein wird. Ganz unverhofft eröffnet sich ihm die Möglichkeit, Kontakt zu seiner verlorenen Familie aufzunehmen. »Aber du darfst nicht wieder auf Antwort warten«, sagt er mahnend zu sich selbst, während er sich zur U-Bahn-Station aufmacht. »Damals hast du zu lange gewartet. Viel zu lange. Sei ehrlich: Das Schicksal hat dir Felizia geschickt, damit du endlich aufhörst zu warten.«
Das Gehen tut seinem Rücken gut, deshalb beschließt Hans, nicht mit der U-Bahn zurückzufahren, sondern zu Fuß zu gehen. Doktor Martin wird er nicht mehr aufsuchen. Der hat seinen Zweck erfüllt, denkt Hans. In einer Apotheke kauft er sich die stärksten Schmerztabletten, die es ohne Rezept gibt, er bittet den Apotheker um ein Glas Wasser. Dann nimmt er gleich zwei Tabletten auf einmal und macht sich auf den Weg. Quer durch die Stadt. Nach Hause. Und während er geht, freut er sich immer mehr auf dieses Zuhause, das er nun endlich gefunden hat. Ein Zuhause mit einem Kind, seinem Kind, und mit Nachbarn, die zu Freunden werden. »Was will ich mehr«, sagt Hans und fühlt sich glücklich.
Die Stadt ist groß, er geht drei Stunden lang. Am Hauptbahnhof vorbei, über große und kleine Straßen, durch Gassen und Gässchen, er kennt sich überall aus,
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