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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Uhly
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keine Antwort, denn jetzt kommt das Haus in Sicht. Es ist, wie alle anderen, nur eine verputzte Fassade zwischen zwei Regenrinnen, aber dort hat sich alles abgespielt.
    Instinktiv wechselt Hans auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ganz so nah, als würde er gleich den Schlüssel aus der rechten Hosentasche seiner Jeans ziehen, den kurzen, gepflasterten Weg bis zur Tür mit drei Schritten zurücklegen, ihn in das Schloss stecken, ihn umdrehen, die Tür mit der flachen Hand aufstoßen, den winzigen Flur betreten, »Hallo!« rufen wie jemand, der es jeden Tag auf die gleiche Weise tut, und auf die eingeübte Antwort warten, ganz so nah will er dem Haus nicht kommen. Nun schaut er über das Dach eines geparkten Autos hinüber auf die andere Seite, wo hinter einem anderen geparkten Auto der Weg zur Haustür führt. Es ist eine neue Tür, eine bronzefarbene Metalltür mit verschiedenen Verzierungen und getöntem Milchglas, protzig sieht sie aus und viel zu auffällig für ein so unscheinbares Reihenhäuschen. Die Fenster sind immer noch dieselben, das Haus ist immer noch weiß. Die Hausnummer ist immer noch die 30. Aber im Vorgarten stehen zwei große Bäume, die das Küchenfenster links von der Haustür fast verdecken. Eine Birke, die bis zum Dach hinaufreicht, und eine schlanke Tanne, die fast genauso hoch gewachsen ist. Hans hat sie beide gepflanzt, die Tanne hatte er zu Weihnachten gekauft und die Birke fand er im Wald, winzig war sie, ein unscheinbares Pflänzchen, zart wie ein Grashalm. Meine Bäume, denkt Hans, um etwas zu fühlen. Aber es geschieht nichts. Bäume gehören nur sich selbst, denkt er. Kinder auch, denkt er dann. Spätestens wenn sie erwachsen sind. Die Bäume haben ihn nicht vermisst. Und die Kinder tun es bestimmt auch nicht. Das ist traurig, und Hans denkt: Da hast du dein Gefühl, alter Narr. Doch die Trauer geht davon nicht weg, und jetzt ist es, als gehörten sie zusammen, die Trauer und die Selbstverachtung. Hans seufzt. Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf das Haus. Wer dort jetzt wohnen mag? Im Geist geht er nun doch hinein. Der alte Mann sieht den jungen Mann, der immer Jeans trug, wie er seinen Schlüsselbund hervorkramt, die Tür aufschließt und aufstößt und ruft und auf Antwort wartet.
    Aber es kommt keine Antwort. Der junge Mann durchsucht das Haus, er steigt in den Keller, er sucht unter dem Dach, wo Hanna ihr eigenes Reich hat, und ganz zum Schluss betritt er die Küche. Dort liegt ein Brief auf dem Tisch. Da lässt er sich auf die kurze Sitzbank fallen und zögert eine halbe Stunde lang, bis er den Brief liest. Er liest ihn, und dann liest er ihn noch einmal und immer wieder, so oft liest er den Brief, dass er ihn für den Rest seines Lebens auswendig kann. Doch es findet sich darin keine Hoffnung auf ein weiteres Gespräch, kein Hinweis auf eine offen gelassene Hintertür, kein verstecktes Angebot für einen Neuanfang. Nichts als das unausweichliche Ende ihrer Liebe.
    Seitdem ist der junge Mann ein alter Mann. Das spürt Hans jetzt, als er sich auf das Autodach stützt, um seinen Rücken ein wenig zu entlasten und weil die Erinnerung wie ein Gewicht in seinem Kopf liegt, das diesen nach unten zieht, bis er nur noch hängt. Hans schließt die Augen. »Deshalb bist du hergekommen, du Narr«, flüstert er. Tränen laufen aus Hans’ geschlossenen Augen und fallen zwischen seinen Füßen auf den Bürgersteig. Eine ganze Weile steht er so. Dann richtet er sich auf und überquert die Straße. Links neben der Nummer 30 steht Haus Nummer 28. Dort läutet er. Eine junge Frau öffnet die Tür, im Hintergrund hört Hans Kinder. Die Frau ist Mitte dreißig, so alt wie meine Tochter, denkt er. Sie schaut ihn fragend an, wie man einen Fremden anschaut, und Hans sagt: »Hallo, Anne. Erkennst du mich noch? Ich bin’s, Hans, Hannas Vater.« Die Frau kneift die Augen zusammen, dann reißt sie sie auf. »Hans!«, ruft sie überrascht. »Was machst du denn hier?«
    Hans lächelt sie an. »Ich wollte nur Hallo sagen.«
    Anne bittet Hans herein, wie man einen Bekannten hereinbittet, zu dem man nicht unhöflich sein will, und Hans betritt das Haus. Es sieht genauso aus wie die Nummer 30, aber hier ist alles spiegelverkehrt, als wäre die Regenrinne dort draußen die Y-Achse eines Koordinatensystems. Sie setzen sich in das offene Wohnzimmer an einen Esstisch. Die Kinderstimmen kommen von oben. Hans sieht sich suchend um. Einige Möbel erkennt er wieder. »Wo sind deine Eltern?«, will er

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