Glückskind (German Edition)
kluger Mann. Machen Sie sich nicht mehr Vorwürfe als unbedingt notwendig.« Dann verabschiedet sie sich von ihm und verlässt die Wohnung. Hans sitzt noch länger dort, irgendwann schläft Felizia ein. Aber den Kuss auf der Stirn kann er immer noch fühlen.
Er trägt Felizia ins Schlafzimmer und legt sie ins Bett. Als er durch den Flur zurückgeht, klopft jemand an die Wohnungstür. Herr Tarsi steht draußen und grüßt ihn freundlich. Er sagt: »Ich habe mit Doktor Sadeghi gesprochen. Morgen ist Samstag, da hat er Zeit. Um zehn Uhr morgens. Ich begleite Sie.« Hans dankt ihm, dann verabschiedet Herr Tarsi sich. Hans schließt die Tür. Der Kuss ist fort. Als hätte Herr Tarsi ihn mitgenommen.
Es ist noch nicht einmal Mittag, aber Hans hat Hunger. Sein Einkauf steht noch in den Tüten auf dem Fußboden. Er beginnt, die Lebensmittel zu verstauen. Weil es ihm wegen der Rückenschmerzen schwerfällt, sich zu bücken, kniet er sich hin, um den Kühlschrank zu füllen.
Frau Tarsis Worte gehen ihm nicht aus dem Kopf. Er denkt nach: Wenn die Polizisten lange genug im Müll gewühlt haben, werden sie Eva M. vorwerfen, dass sie schon wieder gelogen hat. Dann wird sie wissen, dass ihr Kind nicht tot ist. Und dann, denkt Hans, wird sie nicht mehr so traurig sein. Er hält inne. Aber was ist, wenn ihre Verzweiflung gar nichts mit ihrem Kind zu tun hat? Wenn ihr Kind sie gar nicht kümmert, weil sie viel zu sehr um sich selbst trauert? Wenn sie Felizia weggeworfen hat, weil einfach kein Platz für sie da war? Was für ein trauriger Gedanke! Hans schließt die Augen. Wenn es so ist, denkt er, dann muss sie die Aussicht, dass ihr Kind noch lebt, wie eine Last auf ihren Schultern empfinden, die sie schon abgeworfen hatte. Er öffnet die Augen wieder. Er denkt: Aber dann wird sie bestimmt nichts sagen. Dann wird sie schweigen und hoffen, dass ihr Kind niemals gefunden werden wird. Und vielleicht eine neue Lüge erfinden. Hans schüttelt den Kopf. Ach was, denkt er, sie will doch nicht im Knast sitzen, wer will das schon? Und das wird sie, davon ist Hans überzeugt, auch wenn Herr Wenzel recht haben mag und man niemanden als Mörder verurteilen kann, dessen Opfer nicht gefunden wird. Sie hat es ja zugegeben. Warum in aller Welt hat sie Felizia weggeworfen? Sie hätte sie doch auch zur Adoption freigeben können. Hat sie sich einfach nur an ihrem Mann gerächt, weil er sie verlassen hat? Hans weiß nicht, was er über Eva M. denken soll. Er sucht nach Halt, er wünschte sich, er würde alles über Eva M. erfahren, um zu verstehen, was sie getan hat. Vielleicht kann er ihr dann verzeihen und alles ist nicht mehr so schlimm. Er denkt: Es gibt vielleicht nicht nur ein Motiv, sein eigenes Kind wegzuwerfen. Vielleicht gibt es sogar viele. Doch was steckt hinter ihnen? In den Nachrichten über getötete, geschlagene, zu Tode geschüttelte, aus Wohnungen geworfene Babys wimmelt es nur so von Gründen, die eigentlich gar keine sind.
Hätte ich meine Kinder ermordet, weil Karin mich verlassen wollte?, fragt Hans sich und fährt fort, die Lebensmittel einzuräumen. Nein, niemals, denkt er, das hätte ich nicht übers Herz gebracht. Aber ich habe andere Dinge übers Herz gebracht. Ich habe es übers Herz gebracht, Rolf die kalte Schulter zu zeigen, wenn er meinen Ansprüchen nicht gerecht wurde, ich war dazu im Stande, ihn mit Nichtachtung zu strafen, als er anfing, gegen mein Regime zu rebellieren. Das muss schlimm für ihn gewesen sein, denkt Hans. Er wollte mir doch immer nur gefallen. Er schließt die Augen und erträgt den Schmerz des Gewissens, den Schmerz des Vaters, der sein Kind verletzt hat, den Schmerz des Liebenden, der die Liebe verraten hat. Warum habe ich nicht mit ihm darüber gesprochen, was los war, denkt Hans und kennt die Antwort. Sie kommt in ihm hoch, als wäre kein Tag vergangen seit damals. Es war Angst. Angst, aus dem Bild herauszutreten, an das Rolf glauben sollte und nicht mehr glaubte, Angst, ihm bei der Zerstörung dieses Bildes behilflich zu sein. Angst vor Demütigung. Vor Demut. Hans atmet tief ein. Vielleicht hatte Eva M. ja auch einfach nur Angst, denkt er. Angst, als Mutter zu versagen. Vielleicht hat sie ihr Baby weggeworfen, um nicht zu scheitern als Mutter. Hans lacht kurz und bitter auf. Er kann es sich gut vorstellen, er hat ja selbst solche Kapriolen geschlagen.
Jetzt ist Hans fertig mit dem Kühlschrank und erhebt sich mühsam. Die übrigen Sachen kommen ins Hängeregal. Es wird eng, Hans hat zu
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