Glückskind (German Edition)
auch die dunkelblaue Limousine, man sieht sie von Weitem. Aber nun kommen die großen, schwarzen Mülltonnen in Sicht, die Stimme aus dem Off erzählt, Eva M. habe ausgesagt, ihr Kind in diese Tonne geworfen zu haben, am vergangenen Montagmorgen, und bei »diese« sieht man die zweite Tonne auf der rechten Seite, die Kamera erlaubt sich einen Kunstgriff, sie fährt in die leere Tonne hinein, der Bildschirm wird schwarz. Dann sieht Hans den blauen Himmel, als habe der Redakteur andeuten wollen, dass Felizia jetzt dort ist, aber die Kamera bleibt in Bewegung, und plötzlich wächst von unten ein Haus ins Bild, zuerst das Dach, dann der oberste Stock von Hans’ Wohnhaus, die Stimme aus dem Off fragt, ob einer der Hausbewohner etwas gesehen haben könnte, man sieht die verglasten Außenflure, die zu den Wohnungen führen, die Stimme fragt, wie es möglich ist, dass Eva M. am helllichten Tage ihr Kind ungesehen dort entsorgen konnte, die Kamera fährt währenddessen weiter hinunter, immer weiter, vorbei am fünften Stock.
Schnitt.
Jetzt steht da Herr Lindner, direkt vor dem Hauseingang, er sieht aus, als genieße er die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt. Jetzt bestätigt Herr Lindner, was die Stimme aus dem Off gesagt hat, und sagt: »Aber wir haben nichts gefunden.«
Schnitt.
Herr Lindner von rechts, Dreiviertelprofil, im Hintergrund die Mülltonnen. Der Interviewer fragt Herrn Lindner, wie es denn nun weitergehe, er streckt Herrn Lindner das Mikrofon entgegen und Herr Lindner sagt, den Müll »aus der besagten Tonne«, und dabei weist er mit ausgestrecktem Arm zu den Tonnen im Hintergrund, habe die Polizei mitgenommen, um ihn näher zu analysieren. Man erhoffe sich außerdem Hinweise aus der Bevölkerung.
Dann ist der Bericht zu Ende und das Gesicht der Nachrichtensprecherin erscheint, sie schaut einen Moment lang tragisch ernst in die Kamera, als lege sie eine Gedenksekunde ein, dann hellt sich ihre Miene auf, denn nun erzählt sie davon, dass Deutschland erstmals in seiner Geschichte Waren im Wert von einer Billion Euro exportiert habe, dass die Kauffreudigkeit der Deutschen die Binnenkonjunktur stütze, dass die Experten glauben, die Entwicklung werde im nächsten Jahr ähnlich positiv verlaufen, vorausgesetzt China schwächle nicht.
Hans schaltet aus. Der Fernsehbericht hat ihm seine Erschöpfung wieder bewusst gemacht. Es ist dieses Gefühl, allmählich in die Enge getrieben zu werden, das ihn so viel Kraft kostet. Sein Leben ist wie ein Haus ohne Ausgänge. Wenn ich doch eine kleine, verborgene Tür fände, denkt er, durch die ich einfach mit Felizia verschwinden könnte. Ich nehme sie auf den Arm und gehe hindurch und hinter mir lösen sich die Umrisse der Tür auf und dann ist dort nur noch ein Stück Landschaft. In dieser Landschaft gibt es keine Stadt, nur Bäume und zahme Tiere und freundliche Menschen, die ihn und Felizia aufnehmen, ohne Fragen zu stellen. Und dort müssten auch Hanna und Rolf sein, denkt er noch, und sie hätten ihm verziehen und Felizia könnte mit Hannas und Rolfs Kindern spielen und sie wären eine große, glückliche Familie. Und manchmal käme Karin zu Besuch und würde ihn anlächeln wie früher. Man müsste zaubern können. Er nickt im Sitzen ein.
Hans träumt. Seine Beine sind abgeschnitten, aber das stört gar nicht, denn er kann hüpfen wie ein Gummiball, er hüpft durch das rote Gebirge, er überspringt die tiefsten Täler und die höchsten Gipfel, und mit einem Mal landet er im Schnee des Fudschijama. Über ihm thront der Gipfel, und jetzt beginnt Hans, hinaufzuhüpfen, immer höher, bis er über den Rand des Kraters springt. Da erst bemerkt er seinen Fehler, denn unter ihm liegt ein rot glühender Lavasee, er kann sich nirgends festhalten, er weiß, dass er im nächsten Moment sterben wird, dass nichts von ihm übrig bleibt. Im letzten Augenblick, als er schon aufschlägt auf der Lava, als einzelne Tropfen hochspritzen und er schon spürt, wie die tödliche Hitze ihn durchflutet, als er schon schmilzt wie ein Stück Eis in kochendem Wasser, gelingt es ihm, seinen Körper zu verlassen. Er blickt nach unten und sieht seinem Körper dabei zu, wie er verbrennt. Das Letzte, was Hans sieht, ist sein eigenes Gesicht, das ihn anstarrt wie einen Verräter, als wolle es sagen: Du hast mich im Stich gelassen. Dann ist es fort und nicht die geringste Verfärbung deutet mehr darauf hin, dass hier gerade noch ein Mensch vergangen ist. Da spürt Hans eine große Erleichterung, eine
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