Glückskind (German Edition)
sich plötzlich ganz sicher. Eva M. hat die Zukunft gesehen, so wie Hans sie jetzt sieht. In Eva M.s Vision gab es für die kleine Marie nur Leiden, und deshalb, und nur deshalb, hat Eva M. getan, was sie getan hat. Aber jetzt glaubt ihr niemand, dass diese Zukunft eintreffen wird. Jetzt glauben alle, dass sie diese Zukunft selbst heraufbeschworen hat durch ihre grausame Tat. Deshalb muss sie bestraft werden. Und ich, denkt Hans, habe ich die Zukunft gesehen oder habe ich nur Angst vor dem, was kommen wird? Was ist zuerst da, die Vision oder die Angst? Erzeugt die Vision die Angst oder die Angst die Vision? Hans seufzt. Nicht nur das Sterben ist ein Labyrinth. Auch das Leben ist eines. Und beide sind manchmal kaum voneinander zu unterscheiden, er weiß das am besten. Jetzt gerade lebt er, aber das kann sich jederzeit wieder ändern. »Nutzen wir diese Spanne«, sagt er zu seinem schlafenden Kind. Langsam nimmt er Felizia auf den Arm. Sein Rücken ist ihm gleichgültig, er spielt wieder mit, das genügt, Hans ist beinahe stolz auf den Schmerz. Ich leide, also lebe ich. Ich leide, also habe ich ein Recht, zu sein. Ich leide, also wird man mir verzeihen. Ach verdammt, denkt er, verdammt, verdammt, verdammt. Er trägt Felizia durch die Wohnung, hinaus auf den Flur und zur Nachbartür. Er geht nicht, er schreitet, als wäre es das letzte Mal. Er stellt sich mit Felizia an eines der großen Fenster und schaut hinunter zu den Mülltonnen, so lange, bis der Schwindel einsetzt. Schon verliert er den Halt, schon fühlt er, wie er stürzt, der Boden gibt schon nach und die Tiefe zieht ihn nach unten.
Doch bevor das alles geschieht, wendet er sich ab und läutet bei den Tarsis. Dort wird er Haydee Tarsi kennen lernen, ihren blassen Mann Uli, dessen schwacher Händedruck ihn erschrecken wird, und deren sechsjährigen Sohn Jaavid, Jaavid mit einem englischen J, wie Haydee ihm gleich bei seiner ersten falschen Aussprache mitteilen wird. Hans wird sofort Zuneigung empfinden zu diesem Jungen und er wird immer wieder an seinen eigenen Sohn denken müssen. War er ihm nicht ähnlich? Sind nicht alle Jungen in diesem Alter einander ähnlich in ihrer Verletzlichkeit? Sie werden alle zusammen im Wohnzimmer der Tarsis auf dicken Teppichen und kleinen, bestickten Kissen sitzen, in ihrer Mitte wird eine große Holztafel liegen, auf der Nüsse, getrocknete Früchte, Salate und frisches Obst und Getränke stehen werden. Sie werden sich unterhalten, sie werden darüber sprechen, wie außergewöhnlich es ist, dass sie sich zusammengefunden haben, sie werden versuchen, nicht zu laut zu sein, weil Felizia, ihr aller Zentrum, mitten unter ihnen schläft. Sie werden sich über Belanglosigkeiten unterhalten, über den goldenen Herbst, der nun vielleicht doch nicht stattfinden wird, über den Euro-Rettungsschirm, der inzwischen so groß ist, dass es hereinregnet, wie Herr Tarsi geistreich sagen wird. Herr Wenzel wird Süßigkeiten aus seinem Lotto-Toto-Geschäft mitgebracht haben, die er nun vor allem an Jaavid wird verschenken wollen, bis Haydee ihm Einhalt gebietet, sie wird es mit einem mahnenden Lächeln tun, das keinen Widerspruch duldet, und Herr Wenzel wird sich fügen.
Aber irgendwann wird Felizia erwachen und dann wird sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihre Augen werden alles neugierig und ohne Furcht anschauen und alle werden ihrem Charme erliegen, sogar der kleine Jaavid, der gerne ein Geschwisterchen hätte. Hans wird sich wohl fühlen, es wird ihn nicht einmal stören, dass Haydee davon erzählt, wie sie sich als Halbwüchsige vor ihm fürchtete. Er wird denken, dass er sich vor diesen Menschen nicht nachträglich zu schämen braucht. Aber dann wird er von seinem Gespräch mit Doktor Sadeghi berichten, er wird es tun, weil er keine Geheimnisse vor diesen Leuten haben will und weil er Trost sucht. Da werden sie betroffen schauen, und auch Frau Tarsi, die sonst nie um eine Lösung verlegen ist, wird sich hilflos fühlen, bis Haydee Tarsi, die gerade Felizia auf dem Arm haben wird, sagt: »Wir brauchen neue Eltern für sie, das ist doch klar!« Sie wird sagen: »Es müssen Leute aus dem Prekariat sein, denen glaubt man, dass sie eine Geburt einfach verheimlichen und erst Monate später anmelden.« Daraufhin wird eine Debatte zwischen ihr und ihrem Mann über die Frage entbrennen, wer denn überhaupt zum Prekariat gehört. Uli wird sagen: »Es gibt ja nicht nur ökonomisches, sondern auch emotionales Prekariat, und die sind manchmal
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