Glückskind (German Edition)
Links und rechts standen Polizisten mit Gummiknüppeln. Einem habe ich in die Augen geschaut.« Er seufzt. »Das war ein Fehler. Er hat mir die Kniescheibe zertrümmert. Mit einem einzigen Schlag. Hätten uns nicht andere Leute geholfen und mich ins Flugzeug geschleppt, dann wären wir dageblieben, auf der Startbahn. Und anschließend der Flug bis Frankfurt. Zehn Stunden!« Er lacht auf, als hätte er soeben eine Anekdote erzählt. Frau Tarsi schaut ihren Mann einen Moment lang liebevoll über die Tafel hinweg an. Sie sagt: »Immerhin sind wir dafür in die erste Klasse gekommen und du konntest liegen.«
Herr Tarsi nickt langsam. »Es gibt eben nichts Schlechtes, das nicht auch etwas Gutes hat.«
»Papa, Mama, genug jetzt von den alten Geschichten!«, sagt Haydee in diesem Augenblick. »Seid froh, dass ihr hier seid und nicht im Iran.«
»Das versuchen wir, Liebes«, sagt Frau Tarsi. »Und meistens gelingt es uns auch. Aber manchmal …«
»Manchmal«, sagt Herr Tarsi, »erinnert man sich, woher man kommt.«
»Das habt ihr ja jetzt getan«, sagt Haydee ungeduldig. »Und nicht zum ersten Mal.«
Die Tarsis lächeln ihre Tochter milde an und fügen sich. Frau Tarsi sagt: »Erzähl uns doch mal etwas von der Schule, junger Mann!«
Jaavid verdreht die Augen und tut, als falle er in Ohnmacht. Er wirft sich zu Boden und stöhnt: »Die Schule ist Scheiße!«
Uli sagt: »So spricht man nicht, Jaavid!«
»Aber es ist so«, sagt Jaavid, der immer noch den Sterbenden mimt. Haydee zuckt mit den Schultern. Sie sagt: »Tja, heute machen sich die Kinder gar keine Illusionen mehr.«
Frau Tarsi ist verwirrt. Sie sagt: »Aber so schnell!«
Jaavid richtet sich auf. Er ruft: »Da ist eine Lehrerin, die schreit ständig herum und zählt immer bis drei, und wenn wir das und das nicht gemacht haben, dann kriegt sie eine Nervenattacke, sagt sie. Das nervt total!«
»Hm«, macht Herr Tarsi, »hast du denn gar keinen Spaß?«
Jaavid schüttelt den Kopf. Er will nicht über Schule reden.
Uli sagt: »Das wird sich schon geben.«
Haydee reißt die Augen auf, wie ihre Mutter das tut, und starrt ihren Mann an. Sie sagt: »Glaubst du wirklich? Ich glaube eher, dass es schlimmer werden wird. Ich bin gar nicht mehr sicher, ob ich ihn in der staatlichen Schule lassen will.«
Uli sagt: »Wohin willst du ihn denn stecken?«
Aber bevor Haydee antworten kann, ruft Jaavid: »Ich will nicht gesteckt werden! Ich will mich selbst stecken!«
Gelächter. Herr Wenzel klopft Jaavid auf die Schulter und sagt: »Recht so!« Haydee wirft Herrn Wenzel einen irritierten Blick zu und der zieht seinen Hals noch ein wenig weiter zwischen die Schultern. Zu ihrem Sohn sagt sie: »Natürlich, Liebling, du wirst nirgendwohin gesteckt. Nur wenn du willst.« Jaavid ist besänftigt. Herr Tarsi lädt ihn zum Backgammon ein und die beiden setzen sich ein wenig abseits auf den Boden.
Uli setzt sich zu Herrn Wenzel und beginnt ein Gespräch über dessen Lotto-Toto-Laden. Das gibt dem alten Mann die Gelegenheit, zu erzählen, dass er das Geschäft seit vierzig Jahren betreibt, dass es die ganze Familie ernährt hat und dass es inzwischen nur noch eine Gewohnheit ist. »Ich könnte in Rente gehen«, sagt er.
»Aber was mache ich dann?«
In diesem Augenblick sagt Haydee: »Sie hatten aber schon vorher Erfahrung mit Kindern, nicht wahr?«
»Wie bitte?« Hans hat Uli und Herrn Wenzel zugehört. Er wiegt Felizia, die schwere Augenlider bekommen hat. Gerne würde er sie ablegen, aber er will warten, bis sie schläft. Haydee schaut ihn erwartungsvoll an. Sie will mehr über diesen seltsamen Mann wissen, der plötzlich bei ihren Eltern ein und aus geht.
Hans nickt. Ja, er hat Erfahrung, er hat ein Mädchen und einen Jungen großgezogen. »Sie sind ein paar Jahre älter als Sie«, sagt er zu Haydee.
»Oh!«, macht sie und ist ganz erstaunt, warum weiß sie selbst nicht, vielleicht weil plötzlich ein ganz neues Bild in ihrem Kopf entsteht. Hans, der behauste Penner, als Familienvater. Sie zögert. Dann sagt sie: »Wie ist es denn dazu gekommen, dass Sie so …« Sie stockt und weiß nicht weiter.
Hans hilft ihr. Er sagt: »Dass ich so heruntergekommen bin?«
Sie nickt schüchtern und wirft ihrer Mutter einen schnellen Blick zu.
Hans mag ihre Ehrlichkeit. Sie ist immer sie selbst, sie kann gar nicht anders. Er sagt: »Ich hatte damals ein Verhältnis mit der Frau meines Nachbarn. Monatelang.« Er schluckt. Darüber hat er noch nie gesprochen. Warum ausgerechnet
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