Glückskind (German Edition)
ihr vor?«
Hans zuckt mit den Schultern und bereut es sofort. Er will nicht ziellos wirken. Er sagt: »Ich will sie großziehen.«
Herr Sadeghi stellt sein Teeglas ab und lehnt sich zurück. Er schaut aus dem Fenster. Er sagt: »Es ist etwas ganz Besonderes, anderen Menschen zu helfen. Ich weiß, wovon ich spreche, glauben Sie mir.« Er sieht Hans direkt an. Er hat dunkelgrüne Augen. Hans hat noch nie solche Augen gesehen. Doktor Sadeghi sagt: »Ich helfe Ihnen gerne. Mein Freund, Herr Tarsi, Ihr Nachbar, hat mir viel über Sie erzählt. Er schätzt Sie sehr.« Er lächelt Hans an und sieht dabei traurig aus.
Hans ist verwirrt, er kann Doktor Sadeghi nicht einschätzen. Er sagt: »Finden Sie es falsch, dass ich sie behalten will?«
Der andere seufzt und schaut wieder aus dem Fenster. Dann schüttelt er den Kopf. »Nein«, sagt er, »das ist es nicht. Ich verstehe sehr gut, dass Sie glauben, sie sei nur bei Ihnen sicher. Sie haben sie ja erst in Sicherheit gebracht. Es ist also Ihre Aufgabe geworden, das ist vollkommen richtig.« Er holt tief Luft. Er sagt: »Aber eines Tages wird sie ihren leiblichen Eltern begegnen wollen. Jeder Mensch will das, es ist ein Naturgesetz. Wir wollen unserem Ursprung begegnen, um etwas über uns zu verstehen. Und Ihre Felizia wird das auch wollen. Sie wird schon sehr bald, sagen wir in fünf oder sechs Jahren, anfangen, nach ihren Eltern zu fragen. Und Sie? Werden Sie ihr die Wahrheit sagen können?«
Hans schüttelt den Kopf, bevor er darüber nachdenken kann. Er sagt: »Ich glaube nicht. Ich hätte das Gefühl, ihr damit weh zu tun.« Doktor Sadeghi nickt, er versteht. Er sagt: »Man müsste herzlos sein, um einem Kind etwas Derartiges erzählen zu können. Aber dann werden Sie lügen müssen.«
Hans nickt. »Ja, so wird es wohl sein. Zumindest so lange, bis sie es versteht.«
»Und wenn Sie sie anlügen, werden Sie ihr nicht helfen, sondern ihr schaden.« Er lehnt sich zurück. »Wenn Sie sie behalten, werden Sie mit diesem Dilemma leben müssen. Es tut mir sehr leid für Sie beide.« Er schweigt. Er wirft einen Blick auf Felizia. Dann schaut er wieder aus dem Fenster und trinkt Tee.
Hans starrt ihn an. Er weiß sofort, dass Doktor Sadeghi recht hat mit dem, was er sagt. Ganz gleich wann und wie er Felizia die Wahrheit sagt, ob sie noch ein Kind sein wird oder schon erwachsen – wie soll er ihr denn etwas erklären, was nicht einmal er selbst versteht? Etwas, das vielleicht niemand verstehen kann. Und immer wird er der Überbringer der furchtbaren Nachricht sein und zugleich derjenige, der diese Nachricht jahrelang zurückgehalten hat. Und immer wird Felizia mit einer falschen Identität aufgewachsen sein, die sich plötzlich in nichts auflöst und ersetzt wird von einer Wahrheit, die man niemandem wünschen kann.
Ich bin kein Großvater, denkt er. Ich bin ihr Finder, ihr Retter. Aber das Retten ist bereits geschehen. Was geschieht jetzt, in diesem Augenblick? Ist es noch Retten oder ist es bereits etwas anderes? Einen Moment lang bereut er, dass er hergekommen ist, dass er nicht mit Herrn Wenzel und irgendeiner Lüge im Gepäck zu der Kinderärztin in seinem Viertel gegangen ist. Aber gleichzeitig weiß er, dass die Zeit des Lügens vorbei ist. Er fühlt sich, als müsse er hier und jetzt von Felizia Abschied nehmen, hier und jetzt das Ruder herumreißen, damit sie nicht in die Falle gehen, von der Doktor Sadeghi gesprochen hat.
Es war ein Traum, Felizia aufzuziehen und glücklich machen zu können. Natürlich kann er sie aufziehen. Aber er wird zugleich an ihrem Unglück beteiligt sein. Sie wird sich vielleicht von ihm abwenden, sie wird ihn vielleicht hassen und ihn nie wieder sehen wollen, weil er sie behalten hat, weil er sie glücklich machen wollte, obwohl es nicht seine Aufgabe war.
Hans schließt die Augen. Er nickt, er hat verstanden, und er ist ratlos und traurig. Mit leiser Stimme sagt er: »Danke für Ihre klaren Worte.«
Doktor Sadeghi nickt: »Es ist mir nicht leichtgefallen.«
Felizia wird wach. Doktor Sadeghi erhebt sich und sagt: »Bringen Sie sie bitte zu der Pritsche dort.« Er weist mit der Hand zur Wand, dort steht eine gepolsterte Pritsche, Herr Sadeghi breitet noch schnell eine warme Decke darüber, dann legt Hans Felizia darauf. Sie hat inzwischen Doktor Sadeghi in Augenschein genommen, auf dessen Geheiß Hans Felizia auszieht, bis sie nackt auf der Decke liegt. Ihr Blick wandert neugierig zwischen den beiden Männern hin und her. Jetzt
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