Glückskind (German Edition)
Behandlung, aber sein Gespräch mit Doktor Sadeghi erwähnt er nicht. Dann schweigen sie, Herr Wenzel schaut aus dem Fenster, Herr Tarsi fährt. Hans fühlt wieder Felizias Herzschlag und weiß, dass er eine Entscheidung fällen muss. Aber er weiß nicht welche. Oder er will es nicht wissen. Noch nicht.
Ankunft in der Tiefgarage, die Balcis sind zum Glück nicht mehr da und ernsthaft hat niemand mit ihnen gerechnet. Aber manchmal vergisst der Kopf die Zeit und dient lieber den Gefühlen. Sie fahren hinauf in den fünften Stock, offenbar ist Herr Wenzel auch zum Mittagessen eingeladen. Immer noch schweigen sie alle, aber Hans hat den Eindruck, dass sie es aus ganz unterschiedlichen Gründen tun. Oder merken die anderen ihm an, dass etwas vorgefallen ist? Und was ist es überhaupt? Hans muss jetzt allein sein, das spürt er genau. Als sie in ihrem gemeinsamen Hausflur angekommen sind, sagt er zu den anderen: »Ich muss noch etwas erledigen. Ich komme in zehn Minuten nach.« Das klingt akzeptabel und wird akzeptiert, aber es ist nicht die Wahrheit, denn Hans braucht Zeit und weiß nicht wie viel. Als die beiden weitergehen zur nächsten Tür, bereut Hans, dass er schon wieder gelogen hat. Es ist nur eine Notlüge, er weiß das, und trotzdem scheint es leichter zu sein, die Welt auf diese Weise in Ordnung zu halten, als wenn man die Wahrheit sagt. Was wäre denn die Wahrheit gewesen? Vielleicht muss er allein sein, um das herauszufinden. Er schließt die Tür auf, wirft seinen Mantel ab und trägt Felizia ins Schlafzimmer. Als sie auf dem Bett liegt und weiterschläft, betrachtet Hans sie. »Ich werde dich anlügen müssen, damit du erst leidest, wenn du groß genug dafür bist«, murmelt er. Vorher wird sie nur leiden, weil sie keine Eltern hat wie alle anderen Kinder. Und wenn sie gerade darüber hinweg ist, kommt es noch schlimmer. Dein Vater hat dich verlassen und deine Mutter … Kann ich das in Kauf nehmen?, fragt er sich. Bisher hat er alles für sie getan. Für sie, für sie, für sie, sein Mantra. Aber jetzt? Kann er sie anlügen, obwohl er weiß, dass diese Lüge sich gegen sie beide richten wird? Dir zu deinem Besten weh tun, denkt er, geht das überhaupt? Er setzt sich auf die Bettkante und schaut aus dem Fenster. Der Regen ist wieder stärker geworden, dicke Tropfen klatschen gegen die Scheibe, eintönig ist das.
Hans fühlt, wie die Verzweiflung Besitz von ihm ergreift. Doch es ist nicht die panische Verzweiflung des Augenblicks. Die Verzweiflung, die er jetzt spürt, fließt ganz langsam durch seine Adern. Wie ein Gift, das auf dem Weg zum Herzen ist. Hans kennt dieses Gefühl, er hat es lange nicht gehabt. Es kann nur bedeuten, dass er ganz allmählich den Boden unter den Füßen verliert. Es kann nur bedeuten, dass er jetzt klare Gedanken braucht. Aber es kommen keine klaren Gedanken.
Das Einzige, was kommt, ist ein verzweifelter Wunsch nach der perfekten Lüge, nach einer Lüge, die nicht mehr in einer geleugneten Wahrheit wurzelt, die man ausgraben und vorzeigen kann. Es müsste eine Lüge sein, die so fest steht wie dieses Haus, nein, fester noch, so fest wie der Tod, sagt ein Gedanke in seinem Kopf.
Das Wort hallt nach, Hans lauscht. Der Tod. Eine Tür aus dem Leben. Ist nicht der Tod die Lösung aller Probleme, denkt er, ist es nicht manchmal besser, einfach alles loszulassen, anstatt sich immer weiter abzustrampeln, obwohl es aussichtslos ist, obwohl immer nur mehr Leid auf uns wartet?
Er schaut Felizia an, die daliegt und schläft und vielleicht etwas Schönes träumt. Gibt es eine Möglichkeit, den Tod zu finden, ohne durch das schreckliche Labyrinth des Sterbens zu gehen, denn so erscheint ihm das Sterben: wie ein schmerzvoller Irrgarten, in dem jede falsche Abzweigung zu längerem Sterben oder sogar zurück ins Leben führt, aber dann in ein Leben, das die Erinnerung und die Folgen des nahen Todes mit sich herumträgt. So wie Felizia das Sterben mit sich herumträgt, das ihre Mutter ihr angetan hat. Hans fühlt, dass auch er diesem Kind hier und jetzt den Tod antun könnte, um es zu befreien von allem zukünftigen Leiden. Aber nicht das Sterben, das Sterben niemals.
Eva M. mit ihren todtraurigen Augen, die ihn anschauen und doch nichts sehen, taucht vor ihm auf, und plötzlich ist er sicher, dass auch sie das Kind bewahren wollte vor den Folgen der Zukunft. Es war keine Rache an diesem Dummkopf von einem Vater, der zuerst drei Kinder in die Welt setzt und dann doch lieber geht, Hans ist
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