Glückskind (German Edition)
jetzt? Fast bereut er es. Aber nun ist es zu spät. Er sagt: »Als Karin dahinterkam, hat sie die Kinder gepackt und ist einfach ausgezogen. Ich kam nach Hause und sie waren nicht mehr da.« Dass er danach von ebendiesen Nachbarn aufgenommen wurde, sagt er nicht. Dass seine Beziehung zu Annes Mutter unerträglich wurde, als Karin und die Kinder fort waren, sagt er nicht. Dass sie ihn nach zwei Monaten hinauswarf, weil er nichts mehr von ihr wollte, sagt er nicht. Dass er wohl der Grund für ihre spätere Trennung von Annes Vater ist, sagt er nicht. Er sagt: »Ich habe meine Kinder seitdem nicht wiedergesehen.«
Haydee starrt ihn entsetzt an. Frau Tarsi legt Hans eine Hand auf den Unterarm.
Hans reißt sich zusammen. Leise sagt er: »Ich habe mich lange zu schuldig gefühlt, um mich schuldig fühlen zu können. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen.«
»Ich verstehe das«, sagt Frau Tarsi sofort und schaut ihn fest an. Auf Frau Tarsi ist Verlass. Er zuckt mit den Schultern und sagt: »Aber ich hätte nichts anders oder besser machen können. Ich war zu dumm.« Er seufzt. Er sagt: »Das hat zumindest etwas Tröstliches.« Er lächelt tapfer und die beiden Frauen lächeln tapfer mit.
Dieser Nachmittag könnte schön sein, aber die Vergangenheit ist überall zugegen. Jetzt will Hans allein sein. Er wartet noch eine Weile, damit es nicht so aussieht, als sei das Gespräch der Grund. Er hört sich noch an, wie Haydee davon erzählt, dass sie früher Angst vor ihm hatte. Er erzählt noch von seinem Gespräch mit Doktor Sadeghi. Uli schaltet sich noch ein und Haydee diskutiert noch mit ihm über das Prekariat. Dann aber verabschiedet er sich von allen und nimmt Felizia auf den Arm und geht nach Hause. Die Tarsis wollten ihn nicht gehen lassen, Herr, Frau und Tochter haben darauf bestanden, dass er bleibt. Er hat gelächelt und müde den Kopf geschüttelt und gesagt: »Ich muss jetzt gehen.« Frau Tarsi begleitet ihn zur Tür. Draußen im Flur nimmt sie ihn in den Arm. Sie ist viel kleiner als er, und doch fühlt Hans sich einen Moment lang wie ein kleiner Junge. Am liebsten würde er sich auf ihrem Schoß einrollen und die Geborgenheit genießen, die von ihr ausgeht.
Als er in seiner Wohnung angekommen ist, bringt er Felizia ins Schlafzimmer. Dann lässt er eine Badewanne ein und legt sich ins heiße Wasser. Er versucht, nicht zu denken. Er schließt die Augen und will nur das Wasser auf seiner Haut spüren, sonst nichts. Aber es funktioniert nicht. Je angestrengter er es versucht, desto hartnäckiger kommen die Gedanken. Seine eigenen Worte gehen ihm durch den Kopf. Und plötzlich sieht er sich selbst und Karin und Hanna und Rolf, sie kleben wie die Fliegen in einem Spinnennetz und können sich nicht bewegen. Ein jeder liebenswert, ein jeder voller guter Absichten, auch ich selbst, denkt Hans, während ihm schon die Tränen kommen, auch ich selbst. Und so unglücklich miteinander, so beschissen unglücklich! Da gab es keine Schuld, keine Boshaftigkeit, und auch das mit Annes Mutter macht ihn nicht schuldiger, denn der Verrat gehörte dazu, er musste vollstreckt werden. Und wer war besser dafür geeignet als ich, denkt Hans. Ich, der Versager, ich, der Pantoffelheld. Ich, der Schuldige, ich, der Verlassene. Ich, der allen recht gibt, indem er vor die Hunde geht. Aber nichts davon war wirklich so. Alles hat sich nur in den Köpfen abgespielt. Hans weiß jetzt, dass er niemanden verletzen wollte. Er wollte niemanden verraten, nicht seine Frau und nicht seine Kinder. Er wollte nur glücklich sein, und er wusste nicht wie. Dann denkt Hans nicht mehr und weint nur noch, seine Tränen fallen ins Badewasser und verschwinden. Er weint, während Felizia schläft, während sich nebenan Herr Wenzel verabschiedet und an Hans’ Wohnungstür vorbei zum Fahrstuhl geht, während Jaavid keine Lust mehr hat, Backgammon zu spielen, weil er jetzt seinen iPod wiederhaben möchte, obwohl Uli gesagt hat: »Heute ist Pausetag.« Während draußen ein Wind aufkommt, der die dicke schwere Wolkendecke über den Himmel zieht, dass einem schwindelig wird beim Zuschauen.
In der Nacht träumt Hans neue Träume, an die er sich später nicht erinnern wird. Kurz vor dem Morgengrauen reißt die Wolkendecke auf und die Sterne kommen zum Vorschein. Aber das wird Hans nie erfahren, denn als er ein paar Stunden später erwacht, regnet es wieder. Er schaut hinaus und denkt: Das wird wohl nichts mit dem goldenen Herbst. Doch es stört ihn nicht. Gestern noch
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