Glückskind (German Edition)
Botschaft.« Ja, das ist es, denn es bedeutet, dass ihr nicht alles gleichgültig ist und dass Hans die verwahrloste, grobe, gewissenlose Veronika Kelber in den Mülleimer seiner Fantasie werfen kann, weil es sie nicht gibt. Nein, denkt Hans erschrocken, nicht in den Mülleimer, nichts Lebendes gehört da hinein, nicht einmal der Irrtum.
Er nimmt sein schlafendes Kind auf den Arm und geht nach nebenan zu den Tarsis. Frau Tarsi ist in Hochstimmung, vorsichtig nimmt sie Hans Felizia ab und bringt sie ins Schlafzimmer. Herr Tarsi klopft Hans immer wieder auf die Schulter. Er grinst über das ganze Gesicht, er denkt, wie hat dieser Hans sich verändert, er kann gar nicht sagen, wie glücklich ihn das macht, es fühlt sich an, als wäre in Hans die Hoffnung der ganzen Menschheit gebündelt, als wäre er eine Figur, die für etwas steht, für die innere Schönheit des Menschen vielleicht, für seine Zartheit und Güte, für alles, was kostbar ist. Herr Tarsi bekommt feuchte Augen, als er das alles fühlt, und Hans wird verlegen. Frau Tarsi kommt zurück und umarmt Hans, und diesmal ist sie wirklich eine kleine Frau, die einen viel größeren Mann umarmt, keinen großen Jungen, der sich am liebsten auf ihrem Schoß zusammenrollen würde.
Herr Tarsi kann wieder sprechen, er ruft: »Das müssen wir mit persischem Wein feiern!«
Frau Tarsi eilt sofort zum Küchenschrank und holt eine Flasche südafrikanischen Shiraz heraus.
Herr Tarsi entkorkt die Flasche und sagt: »Alle Weine sind persisch, egal woher sie kommen. Aber Shiraz ist der persischste von allen!« Er schenkt den Wein in drei türkische Teegläser ein. Dann stoßen sie an und trinken.
Noch am selben Tag ruft Hans in der Justizvollzugsanstalt an. Eine ältliche Frauenstimme klärt ihn sachlich darüber auf, dass er eine schriftliche Voranmeldung mit seinen persönlichen Daten, Name, Vorname, Geburtsdatum, Wohnort, schicken muss, damit der zuständige Beamte eine Kartei anlegen kann. Eine Kopie des Sprechscheins muss beiliegen. Sobald dies geschehen ist, muss Hans einen schriftlichen Terminantrag einreichen, gerne auch per Fax. Nach Eintreffen dieses Antrags kann bis zu einer Woche vergehen, bevor der Besuchstermin feststeht. An Wochenenden und Feiertagen kann Hans Veronika Kelber nicht besuchen. Hans sagt Ja zu allem und bedankt sich. Dann endet das erste Behördengespräch, das er seit langer Zeit geführt hat. Seit wann? »Seit einer Ewigkeit!«, ruft Hans und fühlt sich gut, sehr gut sogar, nicht weil er ein Behördengespräch hat führen können, sondern weil sich im Moment alles so ganz und so heil anfühlt. Als wäre er nie ein behauster Obdachloser gewesen, als hätte Felizia nie in einer Mülltonne gelegen, als säße Veronika Kelber gar nicht in einem Frauengefängnis eine Zugstunde von hier entfernt ein, weil sie des Mordes an ihrer Tochter angeklagt ist. Als hätten Karin und Hanna und Rolf ihn nicht allein gelassen.
Doch so ist es nicht. Alles fühlt sich heil und ganz an, obwohl all dies geschehen ist, und das ist fast noch besser, nein, es ist ganz bestimmt besser, denkt Hans, denn es bedeutet, dass das Heile und Ganze nicht davon abhängig ist, was im Leben passiert.
Am selben Tag erledigt er alles, was die Dame von der Justizvollzugsanstalt von ihm verlangt hat. Die Tarsis haben ein Faxgerät, damit senden sie die Unterlagen. Gleich am nächsten Tag kommt, ebenfalls per Fax, die Aufforderung, einen Termin anzufordern. Mit Hilfe von Frau Tarsi schickt Hans ein weiteres Fax.
Vier Tage vergehen. Am Samstag kommt Haydee mit ihrer Familie, sie essen wieder alle zusammen bei den Tarsis zu Abend. Diesmal fühlt Hans sich ganz anders, er genießt das Essen und die Gespräche, und als Haydee und Uli in eine Diskussion über Erziehung geraten, unterbricht Hans die beiden und sagt: »Es gibt gar keine Erziehung.« Alle schauen ihn an, aber Hans wird nicht unsicher. Er lächelt Haydee und Uli zu und sagt: »Ich habe früher immer gedacht, ich hätte meine Kinder. Heute weiß ich, dass es umgekehrt ist: Die Kinder haben uns. Ich glaube, alles, was wir tun können, ist, sie zu begleiten.« Er zuckt mit den Schultern und macht eine bedauernde Miene. »Mehr nicht.«
Frau Tarsi lächelt Hans glücklich an. Sie fühlt, dass dies ein besonderer Moment ist. Haydee und Uli können nicht mehr weiterdiskutieren, sie sitzen ratlos nebeneinander und denken über Hans’ Worte nach.
Herr Wenzel nickt. Dann sagt er: »Hans, du bist ein Philosoph.«
Hans lächelt.
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