Glückskind (German Edition)
»Nein«, sagt er. »Ich habe nur eine zweite Chance bekommen.«
Am Sonntag beginnt der Oktober und Hans atmet auf. Endlich wird das Geld vom Arbeitsamt kommen, vielleicht kann er Herrn Wenzel sogar die fünfzig Euro zurückgeben.
Am Montagmorgen versammeln sich alle Mitarbeiter der Sonderkommission ›Marie‹ im Konferenzraum der Zentrale der Kriminalpolizei und treffen die Entscheidung, ihre Suche nach dem unbekannten Obdachlosen nicht öffentlich zu machen, obwohl ihnen bewusst ist, dass dieser Schritt womöglich eine große Hilfe wäre. Aber es gilt, im komplexen Machtgefüge der Institutionen, Ämter und Behörden keine Missstimmigkeiten aufkommen zu lassen. Der Innenminister hat nämlich sehr deutlich gemacht, dass er endlich ein Ergebnis erwartet, damit er sich wieder anderen Dingen zuwenden kann. Er hat gesagt: »Die Leute wollen das!« Einige stöhnen darüber. Auch Herr Lindner denkt sich seinen Teil. Aber der Leiter der SoKo ›Marie‹, ein älterer Kriminalbeamter mit viel Erfahrung und wenig Illusionen, weiß, dass die Gewaltenteilung in der Demokratie eine relative Angelegenheit ist.
Daraufhin einigen sich an anderer Stelle, im Landgericht im vierten Stock, Zimmer 407, der Ermittlungsrichter, Herr Doktor Werner Breuer, und der Staatsanwalt mit dem Pflichtverteidiger auf einen Termin für den Prozessbeginn: am Vierzehnten dieses Monats, also in zwei Wochen.
Herr Doktor Breuer macht seinen Besuchern klar, dass die Rekonstruktion des Tatherganges von entscheidender Bedeutung für die Frage sein wird, ob Veronika Kelber wegen vorsätzlichen Mordes oder wegen Totschlags im Affekt verurteilt wird.
Er sagt: »Die Leiche fehlt ja leider, weshalb wir hinsichtlich des Tatherganges auf Aussagen und Indizien angewiesen sind.« Er seufzt. Er sagt: »Ich weise Sie hiermit daraufhin, dass die Anwendung von Paragraf 213 StGb in diesem Fall keine Selbstverständlichkeit ist, da das Opfer zum Zeitpunkt der Tat bereits drei Monate alt war, so dass der Mutter kein psychischer Ausnahmezustand wegen der Geburt zugutegehalten werden kann. Ob die Androhung des Ehemannes, sie zu verlassen, als solcher zu werten ist, muss erst noch geklärt werden.«
Der Staatsanwalt und der Pflichtverteidiger nicken. Dieser Teil des Gesprächs muss geführt worden sein, obwohl er für alle selbstverständlich ist.
Herr Doktor Breuer macht eine Pause. Er sagt: »Wenn wir nicht klären können, ob die Angeklagte ihr Kind im Affekt in die Mülltonne geworfen hat oder ob sie es vorsätzlich getan hat, um sie dort sterben zu lassen, oder ob das Opfer zuvor von seiner Mutter getötet und dann erst in die Mülltonne geworfen wurde – und ich sehe derzeit keine Möglichkeit, hier Klarheit zu schaffen –, dann wird es keine Verurteilung wegen Mordes geben können.«
Herr Doktor Breuer erinnert die beiden Herren an das Urteil vom 12. Dezember 2001 des dritten Senats des Bundesgerichtshofs in Sachen Strafrecht, Aktenzeichen 303, wo ein ähnlicher Zweifel zunächst zur Verurteilung wegen Mordes am Landgericht Lübeck führte, anschließend aber erfolgreich Rechtsmittel eingelegt werden konnte.
»Eine solche Peinlichkeit will ich uns allen ersparen«, sagt er. Der Pflichtverteidiger und der Staatsanwalt nicken, sie kennen den Fall eines Mannes, der seine Ehefrau ermordete und die Leiche anschließend verschwinden ließ, sehr gut. Es ist nicht gerade ein Präzedenzfall für diesen hier, aber sie verstehen, was der Ermittlungsrichter sagen will. Der Pflichtverteidiger kündigt an, er werde auf jeden Fall auf Totschlag im minder schweren Fall plädieren.
Der Staatsanwalt fragt den Pflichtverteidiger, wie er denn die Tatsache, dass Veronika Kelber ihrem Mann gedroht hat, das Kind zu töten, falls er sie verlasse, noch als Totschlag werten wolle. Hier unterbricht Herr Doktor Breuer das Gespräch, indem er sagt: »Um das zu klären, machen wir ja den Prozess.«
Die drei Männer einigen sich noch auf die Hinzuziehung eines psychologischen Gutachters. Herr Doktor Breuer schlägt eine Person vor, der Staatsanwalt und der Pflichtverteidiger sind einverstanden. Dann verabschieden sie sich und jeder kehrt zurück an seinen Arbeitsplatz.
Am Montag um halb zwölf ist Felizia gerade eingeschlafen. Hans bittet Frau Tarsi herüber, damit er zur Bank gehen kann. Als er dort ankommt, lässt er sich einen Kontoauszug drucken. Aber das Geld ist nicht auf dem Konto. Hans verlässt den Vorraum, in dem der Geldautomat und der Kontoauszugsdrucker stehen, und betritt
Weitere Kostenlose Bücher