Glückskind (German Edition)
die Bank. Er wendet sich an eine ältere Frau, die im Kundenbereich hinter einem großen Schreibtisch sitzt. Auf dem Computer schaut sie sich Hans’ Konto an. Dann lächelt sie und erklärt ihm, dass das Geld womöglich deshalb noch nicht eingegangen ist, weil der Erste des Monats ein Sonntag war. Daran hat Hans nicht gedacht. Er bedankt sich und verlässt die Bank. Morgen will er noch einmal herkommen, dann wird das Geld wohl endlich da sein.
Am Dienstagmorgen kommt ein Brief von der Justizvollzugsanstalt. Der Termin ist am Donnerstag um drei Uhr nachmittags. Das ist in zwei Tagen. Hans verlässt das Gebäude, überquert die Straße, betritt das Lotto-Toto-Geschäft, die Tür bimmelt. Er zeigt Herrn Wenzel das Schreiben.
Herr Wenzel geht zu dem Süßwarenregal und nimmt aus einer Schachtel zehn Tüten Ahoj-Brause mit Waldmeistergeschmack. Er sagt: »Bestell ihr schöne Grüße von mir«, und lächelt Hans an.
Hans nimmt die Brausetüten und kehrt nach Hause zurück. Noch am selben Tag kauft Frau Tarsi im Internet eine Hin- und Rückfahrt mit dem Zug. Es gibt ein Sparangebot für einundzwanzig Euro, das nimmt sie und weigert sich, von Hans Geld zu nehmen. »Das ist mein kleiner Beitrag zum Gelingen«, sagt sie stolz, und Hans denkt, dass ›klein‹ bei dieser Frau nur auf ihre Körpermaße zutrifft. Auf sonst nichts. Frau Tarsi druckt den Fahrschein aus und gibt ihn Hans. Die Fahrt wird eine Stunde und zehn Minuten dauern, Hans wird mit dem Regionalexpress bis in die nächste größere Stadt im Norden fahren und dort in eine Regiobahn umsteigen, die ihn an sein Ziel bringen wird. Abfahrt ist um 13.02 Uhr, Ankunft um 14.12 Uhr. Laut Google Maps muss Hans dann noch zweiundzwanzig Minuten vom Bahnhof bis zur Justizvollzugsanstalt gehen.
»So müssen Sie sich nicht beeilen«, sagt Frau Tarsi. Die Wegbeschreibung hat sie ebenfalls ausgedruckt.
Hans ist aufgeregt. Er putzt die Wohnung, er bezieht sein Bett neu, er rasiert sich, er staubt ab, er spült, er bringt den Müll hinunter, er leiht sich von Herrn Wenzel einen guten Mantel. Den ganzen Mittwoch ist er damit beschäftigt, sein Leben auf Hochglanz zu bringen. Er will mit dem Gefühl zu Veronika Kelber reisen, dass alles im Gleichgewicht ist. Eine saubere Wohnung, denkt er, ist ein guter Rückhalt für alles, was man draußen erledigen muss.
Am Mittwochabend, als Felizia schon eingeschlafen ist, fällt ihm plötzlich etwas ein. Er eilt zu den Tarsis. Herr Tarsi öffnet die Tür. Ohne einzutreten, sagt Hans: »Wie soll ich Veronika Kelber denn beweisen, dass ich die Wahrheit sage?« Herr Tarsi versteht nicht. Hans sagt: »Wie soll ich ihr beweisen, dass ich ihre Tochter wirklich habe? Ich könnte doch auch ein Verrückter sein, der das einfach behauptet!«
Herr Tarsi überlegt kurz. Dann hebt er den Zeigefinger und sagt: »Ah!« Er verschwindet in der Wohnung und kehrt kurze Zeit später mit einem Fotoapparat zurück. Er drückt ihn Hans in die Hand und sagt: »Morgen machen Sie ein paar schöne Fotos von Felizia. Dann bringen Sie mir den Apparat und ich lasse Abzüge in einem Kopierladen machen. Das geht ganz schnell.«
Hans versteht nichts von Digitalkameras, aber er ist erleichtert.
In dieser Nacht schläft Hans sehr unruhig. Er hat wirre Träume, von denen er aufwacht, ohne sich erinnern zu können. Sie vergehen wie Rauch in der Luft, wenn er nach ihnen greift, entschwinden sie noch schneller. Felizia dagegen schläft zum ersten Mal durch. Sie wacht nicht wie üblich auf. Sie weint nicht im Schlaf. Ganz still liegt sie neben Hans, ganz regelmäßig geht ihr Atem. Endlich, gegen Morgen, schläft auch Hans ein. Als der Wecker klingelt, ist er todmüde. »Scheißwecker«, murmelt er und will ihn ausschalten. Aber Felizia wird wach, und jetzt hat sie sehr viel Hunger. Sie schreit laut und Hans eilt mit ihr in die Küche. Während sie auf seinem Schoß ihre Milch trinkt, wird Hans bewusst, dass heute der Tag ist, an dem er Veronika Kelber treffen wird. Er beugt sich nach vorn, damit er Felizia in die Augen schauen kann. »Weißt du was«, sagt er zu ihr, »heute werde ich deine Mama sehen.« Felizia trinkt und schaut ihn an. Es ist nicht wichtig, ob du mich verstehst, denkt Hans. Wichtig ist nur, dass ich es dir gesagt habe. Er gibt ihr einen Kuss auf den Kopf und lässt sie weitertrinken.
Um die Mittagszeit kommen die Tarsis und Herr Wenzel zum gemeinsamen Essen. Die Stimmung ist festlich, aber es liegt zugleich eine Spannung in der Luft, an der alle
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