Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Moment, um seinen Julian Draxler zu bringen.
|137| Die 116. Minute bricht an. Vielleicht noch 5 oder 6 Minuten sind zu spielen. Das Elfmeterschießen steht kurz bevor, wenn nicht jetzt doch noch ein Tor fällt. Julian Draxler wird eingewechselt. Drei Minuten läuft er den Gegenspielern hinterher und versucht, ins Spiel zu finden. 119. Minute. Im rechten Mittelfeld bekommt er einen Querpass. Sofort orientiert er sich nach vorn. Ein Nürnberger stellt sich ihm in den Weg. Eine Körpertäuschung mit Übersteiger und Draxler ist vorbei. Er nimmt Maß, zieht ab und – trifft ins lange Eck! Das Spiel ist entschieden, Schalke eine Runde weiter und Draxler ist der Held des Abends. Ganz Deutschland freut sich über dieses Fußballmärchen. Dem Schüler wird in den Tagen nach dem Triumph von zahlreichen Experten eine große Zukunft auf dem Rasen prophezeit.
Zwei Tage später gibt Julian Draxler bekannt, dass er dem Rat seines Trainers gefolgt ist und die Schule verlassen hat, um sich ganz auf den Profifußball zu konzentrieren.
So, und jetzt wird es auch für mich spannend. Ich bin ja kein Fußball-Fan, aber hier hat ein junger Mensch doch ganz offensichtlich eine interessante Entscheidung getroffen: Abi oder Fußballer? Er schmeißt die Schule.
Wie finden Sie das? Der Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes hält den Schulabbruch für bedenklich: »Ich finde es extrem schade, dass er die Schule abgebrochen hat. Denn eine Karriere kann morgen wegen einer Verletzung vorbei sein«, sagt Matthias Sammer der
Bild
-Zeitung.
Sein Trainer Magath sieht das anders: »Julian braucht kein Abitur. Ich konnte seine Eltern überzeugen, dass er die nächsten 20 Jahre in Top-Ligen spielen wird.«
Und Julians ehemaliger Sportlehrer am Gymnasium meint: »Er verdient schon diese Saison mehr als ich in zehn Jahren.«
Nischenbrüter
Die Schule ist unter anderem dazu da, uns auf das Berufsleben vorzubereiten. Sie soll uns die Grundlagen vermitteln, damit wir in der |138| Lage sind, die beruflichen Chancen zu ergreifen, die sich uns bieten. Erhöht die Schule also unsere Chancen im Leben? Konsens ist: natürlich! Ich sage: kaum! Denn für unendlich gibt es keine Steigerung. Und die Möglichkeiten, die sich jedem von uns bieten, sind unendlich.
Viel wichtiger als Zeugnis, Abitur oder Diplom ist ein Leben, das dem Herzen folgt statt einem Lehrplan.
Ob wir etwas aus unserem Leben machen, hängt nicht davon ab, ob wir brav zur Schule gegangen sind, ob unsere Schulen bei Pisa im Mittelfeld oder an der Spitze gelandet sind, ob wir Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Walldorfschule oder High School besucht haben. Es ist auch nicht entscheidend, ob wir studiert haben oder nicht. Fast nicht. Ob wir etwas aus unserem Leben machen, hängt vielmehr davon ab, ob wir unsere Träume verfolgen, uns hohe Ziele stecken, die Zeit für uns arbeiten lassen, richtig rechnen und richtig fragen, den Mut haben, das Abenteuer zu suchen. Viel wichtiger als Zeugnis, Abitur oder Diplom ist ein Leben, das dem Herzen folgt statt einem Lehrplan, ein Leben mit eigenen Zielen statt einem Klassenziel – und ein Leben mit einem starken Willen statt einer Eins in Betragen.
Julian Draxler, der junge Fußballer, hat insofern alles richtig gemacht: Sein Traum ist es, Profifußballer zu werden. Sein Ziel: bei Schalke in der Bundesliga Stammspieler zu sein. Die Zeit arbeitet für ihn, denn er hat keine Zeit verloren und schon so viel Fußball gespielt, bis er 17 geworden war, dass er sein Talent schon jetzt ausschöpfen kann. Er hat richtig gerechnet, denn er kann als Profifußballer in den nächsten beiden Jahrzehnten zehnmal mehr Geld verdienen als in einem kompletten Berufsleben nach dem konventionellen Strickmuster, das Verhältnis von Chance und Risiko spricht turmhoch gegen die Schule, denn dass die Schule seine Profikarriere in den nächsten beiden Jahren beeinträchtigen würde, ist hundertprozentig sicher. Jeder Monat, den er verlieren würde, ist unbezahlbar. Er hat auch richtig gefragt: Wozu brauche ich das Abitur? Kann ich es auch später noch nachmachen, wenn ich es mal brauche? Und er hat den Mut, sich lachend und strahlend ins Abenteuer |139| Profisport zu stürzen. Sein Trainer hat recht: Der Junge ist schon unglaublich reif für sein Alter. Er hat einen wirklich dicken Fisch im Netz, und er hatte den Mut, ihn mit beiden Händen zu packen und aufs Boot zu ziehen.
Das ist, was wir Menschen tun: Wir fischen im Meer der Möglichkeiten nach Chancen. Wenn wir
Weitere Kostenlose Bücher