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Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen

Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen

Titel: Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherer
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Lexus-Oberklassemodell am Waldrand bei Kobe. Die Obduktion ergab, dass sie sich mit Schlaftabletten betäubt und dann mit Autoabgasen vergiftet hatten.
    Ein weiteres Inserat führte die Polizei zu einem Selbstmord in einem Luxusappartement in Tokio. Ein 30-jähriger Mann und zwei |130| 18 und 20 Jahre junge Frauen. Die drei hatten den Rauchmelder kurzgeschlossen, Türen und Fenster abgedichtet, einen Tablettencocktail geschluckt und sich mit den Abgasen eines kleinen Holzkohleofens vergiftet.
    Vor allem in Japan steigt die Zahl dieser Kollektiv-Selbstmorde. Doch auch in Deutschland hat es bereits Fälle von über das Web verabredeten Selbstmorden gegeben. Der bekannteste in jüngerer Zeit ist der Fall des Berliner Mannes, der sich übers Internet mit dem Kannibalen aus Rotenburg verabredete, um sich von ihm schlachten und aufessen zu lassen.
    Abgesehen von der Frage der psychischen Gesundheit – es stellt sich für alle, die fassungslos zurückbleiben, bei einem Selbstmord immer die Frage nach dem Warum. In gewisser Weise behalten Selbstmörder durch ihre Tat Recht: Im Selbstmord liefern sie sich selbst und allen anderen den endgültigen Beweis, im Leben versagt zu haben. Hätten sie mit der Härte und Entschlossenheit, die sie im Mord an sich selbst bewiesen haben, an ihr Glück geglaubt, wären sie dann nicht vielleicht am Ende eines langen Lebens als erfüllte Menschen gestorben?
    Sie haben das Beet vergrößert, ein weiteres angelegt. Darüber haben sie vergessen, was Blumen sind.
    Die Frage, die mich wirklich beschäftigt, ist nicht die, warum in diesen (viel zu vielen) Einzelfällen Menschen ihrer physischen Existenz tatsächlich ein Ende setzen, indem sie ihren Körper zerstören, weil sie mit dem Leben nicht mehr klarkommen. Das, was mich viel mehr umtreibt, ist die Frage, warum so viele Millionen unter uns Tag für Tag Selbstmord begehen, ein ganzes langes Leben lang, und dabei ihren Körper weitgehend intakt lassen und so tun, als ob alles zum Besten sei. Sie wollten eigentlich ihr Leben genießen. Sie wollten täglich Blumen riechen und sich daran erfreuen. Sie haben geplant, gesät und gewartet, gehofft, ihr Bestes gegeben. Aber irgendwann und aus irgendeinem Grund haben sie nur noch am Beet gearbeitet. Sie haben das Beet vergrößert, ein weiteres angelegt. Darüber haben sie vergessen, was Blumen sind. Heute sind alle verwelkt. Und dann hat ihre Beförderung nicht geklappt. Das große Ziel |131| verlor sich in der Entfernung, der Mut wurde kleiner, die Kompromissbereitschaft größer, viel größer, sehr viel größer.
    Fast Forward.
Und plötzlich – hoppla, wo ist die Zeit nur hin? – ist der Partner oder die Partnerin gestorben, und seitdem sitzen sie in der Küche ihres Reihenhauses, lesen den Gemeindeboten und die Todesanzeigen, schauen Richterin Barbara Salesch und, seit das Hörgerät richtig eingestellt ist, auch wieder mal einen Edgar-Wallace-Film.
    Der Hund ist so alt, dass er nur noch einmal am Tag Gassi geführt werden will. Beim Rundweg steht täglich einer weniger am Zaun, der den mechanischen Gruß erwidert. Gleichförmig, wie die gute alte Märklin, schnaufen sie durch ihre letzten Tage, jeden Tag ein wenig langsamer. Im Straßenverkehr sind sie nicht mehr so gut in der Spur. Jeden Morgen die gleiche Frage: Geh ich heute zur Polizei und gebe den Führerschein ab, oder nicht? Sie wollen dem Leben immer mehr Jahre geben, statt den Jahren mehr Leben zu geben.
    Sie fliehen, so lange sie können. Bis sie schlaff und kraftlos auf der letzten Ruhestätte liegen und selbst der Weg zur Schlafzimmertür zu weit geworden ist. Am Bett steht der Kummer über das vertane Leben, der letzte Gefährte. Am Ende sind sie alle gleich. Erstens die Selbstbetrüger mit ihrem Zweckoptimismus, ihrer Postrationalisierung, ihrer Schönrechnerei: »Wir hatten doch immer genug. Es war nicht alles schlecht.« Zweitens die Opfer, die immer wissen, wer Schuld war: »Ich wollte ja, aber – das Wetter, der Chef, die Regierung, die Krise«. Und drittens die Versager mit ihrer vorgeschobenen Selbsterkenntnis, die »Achhättichdochs« – von sich selbst maßlos enttäuscht, resigniert, verbittert.
    Denn sie sind bereits ihr ganzes Leben lang gestorben. Leise, still und stets voller Hoffnung.
    Sie hatten immer gesagt, sie könnten jetzt noch nicht, denn sie müssten erst …, und wenn endlich, dann würden sie …, sobald die Ausbildung, der Umzug, das Studium, der Karriereschritt, die Hochzeit, die Kinder erwachsen,

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