Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Papptafeln, die sie davor ausgebreitet haben: »For Wine«» – »For beer« – »For Whiskey« – »For the day after«. Fast jeder, der vorbeigeht, muss grinsen. »Das könnte dir ruhig nen Euro wert sein«, ruft José. »Lachen ist gesund!«, ruft Lyndon hinterher. Fast immer mit Erfolg. Selbst die Mürrischen greifen zum Portemonnaie.
Fast jede Woche sitzen sie an einem anderen der zahllosen Touristenmagnete der iberischen Halbinsel. Immer dabei: die beiden Hunde Whiskey und Resaca, spanisch für »Brummschädel«. Und ihre Schilder. Alles Teil ihrer PR-Strategie, die augenzwinkernd mit den Vorurteilen über Rumtreiber und mit den Wunschprojektionen der Passanten spielt. Von Werbung verstehen sie etwas: José hat vor seiner zweiten Karriere als Clochard die Marketingabteilung einer Solarenergiefirma geleitet. Lyndon stammt aus Wales und war IT-Fachmann in London. Eines Tages hat er den Schlüssel seiner Eigentumswohnung einfach verschenkt. Und ein Oneway-Ticket nach Spanien gekauft. Etwa zur gleichen Zeit hat José seinen Job im Marketing an den Nagel gehängt. Getroffen haben sich die beiden auf einer Parkbank in Granada. José drehte sich einen Joint. Ihre erste Unterhaltung war lustig, an mehr können sie sich nicht erinnern.
Die beiden haben ein klar definiertes Ziel: die Menschen zum Lachen und auch ein wenig ins Grübeln zu bringen. Und dafür die legitime Gegenleistung zu bekommen: Cash. »Mikrotheater« nennen sie ihren Job.
An einem guten Arbeitstag kommen so bis zu 1 500 Euro zusammen. An anderen nichts. Es hängt vom Flow ab. Davon, wie sie mit den Menschen interagieren. »Wir haben nur wenige Sekunden, um mit den Passanten in Kontakt zu treten«, sagt Lyndon.
|144| Einmal täglich checkt Lyndon Mails, den Facebook-Account und das PayPal-Konto. Denn auch via Internet wird Einkommen generiert. »Das Internet ist eine große Straße. Und was wäre eine Straße ohne Vagabunden?«, philosophiert Lyndon. Das Laptop ist immer dabei, in Spaniens Großstädten ist WLAN kostenlos. Nur ab und zu muss man mal in die Kneipe, um das Ding aufzuladen.
Gegen Amtsschimmel sind die beiden Straßenphilosophen übrigens allergisch. Sie beziehen weder Sozialhilfe, noch erhebt José Anspruch auf Rente, die ihm aufgrund langjähriger Anstellung in Spanien eigentlich zusteht. Sie meiden auch die Wohlfahrt. Den Arzt zahlen sie bar. Sie schlafen auf der Straße. Wenn es regnet, werden sie eben nass.
Lyndon und José sind inzwischen in ganz Spanien berühmt. Sogar ein CNN-Redakteur fragte um ein Interview an. Zu einem Auftritt im spanischen Fernsehen ließen sie sich überreden. Es gab Bier gratis.
Ab und zu werden sie auch von BWL-Studenten angesprochen. Die Jungs und Mädels bleiben bei ihnen stehen: »Wir kennen euch. In unserem Guerilla-Marketing-Kurs wird euer Konzept gelehrt.«
Dann können die beiden auch Sätze sagen wie: »Analytisch heruntergebrochen beruht unser Erfolg darauf, dass wir etwas absolut Gewöhnliches tun. Aber auf eine Weise, die sich von der Masse abhebt.«
Obwohl die beiden alles über Bord geworfen haben, was gemeinhin als Kultur gilt, und wenn ich auch mit der Beschränkung auf die Finanzierung des Grundbedürfnisses Vollsuff nichts anfangen kann: Ich bewundere trotzdem die Radikalität, mit der die beiden Wahlvagabunden eine Kultur des Fragens entwickelt haben. Sie fragen sich: Was will ich eigentlich? Und ziehen die Konsequenzen. Sie fragen sich: Will ich jemandem auf der Tasche liegen? Sie finden die Antwort und dann einen Weg, sich selbst zu finanzieren. Sie fragen: Welche Schilder bringen am meisten Kohle? Sie finden es heraus, indem sie es ausprobieren, und ziehen das dann durch.
Zum Fragen, zumindest wenn es zu brauchbaren Antworten führen soll, gehört immer eine Portion siegreiche Frechheit.
Wenn Sie jetzt den Eindruck haben, ich propagierte das Pennerleben, dann täuscht dieser Eindruck gewaltig. Ich propagiere lediglich die selbstgewählte Existenz, die die Folge der richtigen Fragen |145| an das Leben ist. Das Fragen ist ein hervorstechendes Talent der Glückskinder. Zum Fragen, zumindest wenn es zu brauchbaren Antworten führen soll, gehört immer eine Portion siegreiche Frechheit.
Big Picture
Ich war früher auch frech. Allerdings nicht siegreich frech, sondern eher ein wenig dummfrech. Als Jugendlicher war ich ein Rebell, ich bin von allen Schulen geflogen und gefiel mir hauptsächlich darin, gegen die Kapitalistenschweine zu kämpfen. Mit 14 zog ich von zu Hause aus
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