Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
Brief, der ihnen vorgelegt wird, den einen Rechtschreibfehler finden, noch bevor der Brief die Tischoberfläche berührt. Ich bin fast so einer, übrigens. Und es gibt die Menschen, denen sagt man den Midas-Touch nach, die sehen auf Anhieb, ob ein Geschäft Geld bringt oder nicht, mit goldener Präzision. Es gibt solche Fähigkeiten in allen möglichen Bereichen. Dem ehemaligen Weltfußballer Zinedine Zidane sagten begeisterte Fans nach, er habe das Spiel lesen können wie kein anderer vor ihm. Bevor er den Ball zugespielt bekam, hatte er schon das Auflösungsbild der Spielsituation im Kopf und konnte unglaubliche Spielzüge initiieren und Lücken in der gegnerischen Abwehr finden, die kein anderer gesehen hätte. Das heilende Bild. Am Anfang schon das Endbild vor Augen haben. Eine Vision haben. Glückskinder haben das.
20 Jahre lang erträumte, plante, konstruierte Walt Disney das Disneyland in Florida. 14 Tage vor der Einweihung verstarb er und ein Journalist fragte seinen Bruder: »Ist das nicht eine Tragödie? 20 Jahre hat Ihr Bruder für dies alles gebraucht. Und jetzt, wo es endlich fertig ist, kann er es nicht einmal mehr sehen«. Die Antwort des Bruders: »Sie irren, Sir. Mein Bruder sah all dies schon vor 20 Jahren. Sie dürfen es erst heute betrachten«.
Glückskinder sehen die Lücken, sehen, wo sie die Regeln brechen müssen, erkennen Chancen, wo andere Probleme sehen, stellen die |210| Unmöglichkeit infrage, weigern sich, aufzugeben, denken vernetzt und sehen die Verbindungen, wissen, welches Bild wo verborgen ist wie beim Memory, wissen exakt, wo das Puzzleteil liegt, das passen könnte und das sie vor einer Stunde unter 5 000 anderen gesehen haben.
Alles, was bei uns im Leben herumliegt, sind Stücke, die zusammengehören. Die uns so hingelegt wurden, wenn Sie so wollen. Aufgaben. Positivstückchen. Ich kenne in Bezug darauf genau zwei Zustände: Erstens die Problemdenke. Dann glaube ich nicht an Lösungen, sondern sehe nur herumliegende Stücke, sehe die Unmöglichkeit und neige zum Verzweifeln. Zweitens den Flow. Dann mache ich, schwupps, aus zehn Dingen eines, verknüpfe, ohne zu denken, die losen Enden und erkenne das Muster im Chaos. Das ist die Kunst.
Und ja, vom Ende her denken, das kann man sich aneignen, den Chancenblick kann man üben. In mindestens einer Sache wird man früher oder später fast ein Savant, während man seine Vision verfolgt. Man kann das lernen. Man muss das lernen. Sonst braucht man sich nicht wundern, dass nichts klappt im Leben.
|211| CQ
Wie Chancenintelligenz Glückskinder zu Entscheidungen führt
D u kannst den Marshmallow sofort essen, wenn du willst. Halt! Hör mir noch zu, bitte.«
Der Erwachsene legte dem ungefähr vierjährigen Mädchen die Hand auf den Arm, der bereits Richtung Mäusespeck zuckte.
»Hallo, hörst du mir zu?«
Das Mädchen starrte den kleinen, weißen, süßen Marshmallow an, der vor ihm auf dem Teller lag. Man konnte fast hören, wie eine laute innere Stimme es anfeuerte: »Iss ihn! Schnapp ihn dir! Schnell! Sonst isst ihn vielleicht ein anderer!« – Millionen Jahre menschlicher Entwicklungsgeschichte erhöhten ihre Herzfrequenz, aktivierten die Speicheldrüsen und ließen ihren Blick starr werden. Was wollte der Erwachsene?
»Stopp, hör mir zu, bitte. Willst du einen oder zwei Marshmallows?«
Jetzt horchte das Mädchen auf. Was? Zwei? Der Erwachsene hatte jetzt die Aufmerksamkeit des Kindes.
»Also gut. Ich werde jetzt gleich da rausgehen. Du bist gleich eine kleine Weile hier in diesem Raum allein. Du und der Marshmallow. In einigen Minuten komme ich wieder. Wenn der Marshmallow dann noch auf dem Teller liegt, bekommst du noch einen und kannst dann beide haben. Wenn der Marshmallow aber nicht mehr da ist, weil du ihn aufgegessen hast, bekommst du keinen weiteren. Okay? Verstanden?«
Das Mädchen nickte.
Der Erwachsene ging raus.
Der Marshmallow verschwand im Mund des Mädchens.
|212| Die Marshmallow-Intelligenz
Walter Mischel, Professor für Psychologie, führte diese berühmte Studie in den 1960er Jahren in Stanford durch. Etwa ein Drittel der getesteten Kinder war in der Lage, den Marshmallow (zum Teil unter herzzerreißenden Seelenqualen, wie Videoaufnahmen belegen) liegen zu lassen, um die Belohnung, die Verdopplung des Einsatzes, zu kassieren.
Diese Fähigkeit zum so genannten Belohnungsaufschub (englisch:
delay of gratification
) wird auch Triebverzicht oder Impulskontrolle genannt. Mischel fand 14 Jahre später
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