Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Drehständer rechts, ein Plastikregal
links. Die Salbentussi und ihre Helfer schwirrten um mich herum, zückten Tuben,
Döschen, Rollen, erklärten und führten vor. Hauptsächlich mich. Während Helferlein
eins mir ein Steinchen nach dem anderen aus dem Gesicht klaubte, tupfte Helferlein
zwei die aufgeschürften Stellen sauber. Das schmerzte übrigens mehr als der Sturz.
Anschließend kam Madame persönlich angeflattert, präsentierte dem ehrfürchtig lauschenden
Publikum ihr Sortiment von Salben, um sie zum krönenden Abschluss in meinem Gesicht
zu verteilen. Je nach Art der Verletzung eine neue Salbe.
»Ich weiß
schon«, sagte ich. »Wund, Heil und Sport.«
»So ungefähr.«
Den ersten
Salbenauftrag nahm Katinka höchstpersönlich vor, unter dem Blitzlichtgewitter der
Fotografen. Das würden wunderbare Bilder für die Firmenzeitung ergeben. Gleich darauf
war sie an anderer Stelle gefragt, machte das Aufwärmprogramm für den Bambinilauf
mit, stand dem örtlichen Reporter Rede und Antwort, ließ sich mit Fans ablichten.
Kaum blieb Zeit, sich auf den eigenen Start vorzubereiten.
Als das
Feld des Zehnkilometerlaufs lospreschte, Katinka mittendrin, war mein linkes Auge
komplett zugeschwollen und mein räumliches Sehen dahin. Auch die Salbentussi, die
sich ständig zu mir herabbeugte und mir dabei ihre stattliche Oberweite in 3-D präsentierte,
brachte es nicht zurück.
»Schau an,
noch ein Steinchen«, murmelte sie, eine Pinzette zu Hilfe nehmend.
»Der Waldweg
ist jetzt sauber aufgeräumt.«
»Im Gegensatz
zu Ihnen.«
Das mochte
wohl stimmen. Niemand wagte, mir einen Spiegel zu reichen, und ich selbst verzichtete
darauf. Immerhin war nichts gebrochen, nichts verstaucht; ich hatte den Angriff
somit besser überstanden als mein Gefährt, das wir mit verbogener Gabel und geknickten
Speichen ins Hotel zurückgebracht hatten.
Frenetischer
Jubel ließ uns aufsehen, mich und meine Samariterin. Er galt ausnahmsweise nicht
mir, sondern dem Tagesschnellsten. Nach exakt 35 Minuten erreichte Katinka das Ziel.
Lächelnd ließ sie einem abgekämpften Einheimischen auf den letzten Metern den Vortritt.
Natürlich war sie die Siegerin der Frauenwertung, natürlich bedeutete ihre Zeit
neuen Streckenrekord, und schneller als sie war nur eine Handvoll Männer.
Auch ihr
Sponsor gehörte an diesem Tag zu den Gewinnern.
Das Wildschwein
dagegen entkam, nicht allerdings derjenige, der es aufgescheucht hatte. Wir waren
bereits kurz vor Heidelberg, als Katinkas Handy klingelte. Aufgeregt berichtete
der Hotelbesitzer von einem verschrobenen Original aus der Gegend, einer Art Heidedepp,
der öfter auf die Wilderei ging, was man, gewissermaßen aus Gründen der Folklore,
nie ernsthaft verfolgt habe. Diesmal aber, dröhnte der Mann durchs Telefon, diesmal
werde der Mensch sein blaues Wunder …! Die Polizei sei bereits auf der Spur des
Übeltäters. Am heiligen Sonntagmorgen! Wo wir da hinkämen, frage er sich.
»Der Radfahrer«,
nickte Katinka, während sie das Handy wegsteckte. »Ich wusste doch gleich, warum
ich so ein mulmiges Gefühl hatte.«
Ich warf
ihr einen scheelen Blick zu. Das rechte Auge war ja frei. »Aus Gründen der Folklore?
Hat er das wirklich gesagt?«
Sie erwiderte
meinen Blick. »Nächste Woche geht es nach München. Ich kann nur hoffen, dass es
im Englischen Garten keine Wildschweine gibt.«
»Höchstens
gebratene.«
Dann konzentrierte
ich mich wieder auf die Autobahn. 500 Kilometer unfallfrei durch eine zweidimensionale
Landschaft zu steuern, war kein kleines Kunststück. Zum Glück fuhren wir einen Smart.
Bei dem war die räumliche Dimension ja auch nicht so ausgeprägt.
12
Vor 40 Jahren wurden die Olympischen
Spiele einer Verjüngungskur unterzogen. Zum ersten Mal – hört, hört! – darf eine
Frau die entscheidenden Worte sprechen. Die Frau ist 22 Jahre alt, sie heißt Heidi
Schüller und trägt einen atemberaubend knappen Rock. Vor allem aber macht sie kein
Hehl daraus, was sie vom olympischen Gelöbnis hält. Nonchalant, im Stil eines Teenagers,
der ein Gedicht vorträgt, leiert sie den Text herunter und kratzt sich dabei immer
wieder an der Backe. Der linken.
Im Namen
aller Wettkämpfer gelobe ich,
dass wir
in fairem Wettstreit
an den Olympischen
Spielen teilnehmen
und die
für sie geltenden Regeln achten
und befolgen
werden.
Es gibt
viel zu staunen an diesem Augusttag im Jahre 1972. Dass der Himmel über München
aber auch so verdammt blau sein kann! Und Heidis Beine so
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