Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
mir der Schlüssel in seiner Einsamkeit die
ganze Zeit unhörbar zugerufen hatte: Ich bin so allein, Max! Wundert es dich nicht,
dass ich so allein bin?
Ganz allein
war er zwar nicht, denn er hing ja an einem grünen Ledermäppchen. Allerdings fehlte,
da gab ich ihm recht, der Rest seiner großen, verzweigten Schlüsselfamilie: Haus,
Keller, Briefkasten, Rad, Schuppen, Safe. Nichts zu sehen, nichts vorhanden. Null
und nada, wie Ralf Tietje zu sagen pflegte.
Aber wo
waren sie dann, wenn nicht in Begleitung ihres Kollegen von der Autofront?
Meine tastende
Hand gab mir die Antwort.
Als Tietje
wieder bei mir am Tisch stand, war er seinen Schlüsselbund bereits los. Er wusste
es nur noch nicht. Hinter ihm bauten sich seine Kumpel auf, eindrucksvoll wie die
Stadtmauer von Theben.
»Noch einmal
mein Rat«, sagte er mit seiner teigigen Stimme, »halt dich raus aus der Sache. Pass
auf die Glück auf, aber vor allem auch auf dich. Die beiden hier«, sein Daumen zeigte
über die Schulter, »helfen dir dabei.«
Wie auf
Kommando nahmen die beiden Witzfiguren neben mir Platz. Einer rechts, einer links,
wie es sich gehörte. Der rechts Sitzende reichte Tietje die Jacke.
»Zu viel
der Ehre«, grinste ich, während der Detektiv sie überzog.
»Das Bier
geht auf mich. Falls du noch eins möchtest, Kleiner, fühl dich frei. Wegen mir kannst
du hier auch saufen bis morgen früh.«
Aus dem
Hintergrund moserte der Wirt, aber Tietje würdigte ihn keines Blickes. Er klaubte
den Autoschlüssel vom Tisch und verließ die Kneipe.
Und jetzt?
Als mein
Berufskollege gegangen war, herrschte erst einmal Stille. Darin bestand ja ihre
ureigene Funktion: zu herrschen. Wo es aber einen Herrscher gab, gab es auch Untertanen.
Diese Rolle spielten wir anderen und ganz besonders ich. Von allen Untertanen war
ich derjenige am Ende der Stufenleiter, der Bodensatz, wenn man so will. Und dort
hatte ich zu bleiben, wie ich postwendend vorgeführt bekam.
Ich erhob
mich nämlich probehalber von meinem Stuhl, grinste ein »Bis demnächst, Leute« in
die Runde und hatte mich noch nicht zu voller Größe aufgerichtet, als meine Aufwärtsbewegung
von zwei Händen gebremst wurde. Eine rechts auf meiner Schulter, eine links, wie
gehabt. Unten bleiben!, hieß die Geste, und warum ich ausgerechnet in diesem Moment
an Stuttgart 21 denken musste, weiß ich bis heute nicht.
Also Pustekuchen
mit Aufstehen. Der Typ links von mir grinste herausfordernd. Seehundschnauzer, rotgeränderte
Augen und jede Menge Billigklunker an den Fingern. Bei seinem Kollegen hatte Mutter
Natur am Kinn gespart, dafür war er einen halben Quadratschädel größer und dreimal
haariger als ich. Zwei nette Berliner Jungs, die einen vor lauter Gastfreundlichkeit
gar nicht mehr gehen lassen wollten.
»Noch ’n
Bier, Kollege?«, fragte der Seehund und zeigte auf mein leeres Glas.
Ich schüttelte
den Kopf. »Lohnt nicht für die paar Minuten.«
»Wir ham
Zeit«, blökte sein Kumpel ernsthaft. »Ehrlich.«
Nun, das
glaubte ich ihm sogar. Beide sahen sie aus, als hätten sie nichts so sehr im Überfluss
wie Zeit. Im Gegensatz zu mir. Und zu Tietje. Dem ging es mit seiner Aktion ja offenbar
gerade darum, Zeit zu gewinnen. Erst dachte ich, meine neuen Tischnachbarn sollten
mir eine Abreibung verpassen, dabei hatten sie bloß meine Abfahrt zu verzögern.
Und warum? Weil Tietje einen Vorsprung brauchte. Wollte er vor mir zu Hause sein?
Um Material verschwinden zu lassen? Unwahrscheinlich. Was seine Adresse anging,
hielt er mich ja für ahnungslos, und in den eigenen vier Wänden waren seine Unterlagen
vor Schnüfflern wie mir immer noch am sichersten – solange ich nicht in den Besitz
eines Schlüssels kam. Vielleicht hatte Tietje ein ganz anderes Ziel. Einen Kontaktmann
vielleicht oder seinen Auftraggeber. Und ich sollte ihm dorthin nicht folgen.
Ja, das
klang überzeugender. Blieb die Frage, wann er den Verlust seiner Schlüssel bemerkte.
»Seehund
auf Leuchtturmfelsen«, erklärte ich meinem Nachbarn zur Linken. »Idyllischer geht
es nicht.« Auch wenn er daraufhin glotzte wie Kartoffelsalat, war er im Falle eines
Falles der Gefährlichere der beiden. Bis sein langer Kumpel begriff, dass ich türmen
wollte, hätten sie ein paar Straßen weiter die Mauer wieder hochziehen können.
Nur wie
ich es anstellen sollte abzuhauen, war mir noch nicht klar. Sicherheitshalber tastete
ich nach meinem Autoschlüssel. Der ruhte griffbereit in meiner Hosentasche. An ihm
sollte es also nicht
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