Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
arroganten Hauptstadtklops.
Mittlerweile
war es dunkel geworden. Die Lichter der Autos, der Laternen und Gebäude summierten
sich zu einem vielfarbigen Großstadtpuzzle. Doppeldeckerbusse zwangen meinen Taximann
mehrfach zum Ausweichen.
Endlich,
die Landsberger Allee. Tietjes Zuhause erwies sich als Riesenblock aus sozialistischer
Ära, der effektiv, aber lieblos renoviert worden war. Zwitterhaft wirkte das Gebäude
jetzt: rundum gedämmte Plattenbautechnik, ein Balg der Systeme.
Und in welchem
der sechs oder sieben Stockwerke hauste der Detektiv?
»Sagen Sie«,
wandte ich mich an den Fahrer, »würde es Ihnen etwas ausmachen, bis zur Wohnungstür
mit mir zu kommen? Ich kriege manchmal so Beklemmungen, wenn ich allein durch die
Flure gehen muss. So Zustände.«
Sein Kopf
schnellte herum. »Nein!«, stieß er mit greller Stimme hervor. »Nein, solche Sachen
mache ich nicht! Da sind schon Dinge passiert … Auf keinen Fall. Bitte gehen Sie!«
»Schade.«
Ich stieg aus. »Dann rufen Sie wenigstens den Notarzt, falls ich mich vor lauter
Panik aus dem sechsten Stock stürzen sollte.«
Mit quietschenden
Reifen fuhr das Taxi an. Feigling!
Das Gesicht
tief im Kragen meiner Jacke verborgen, überquerte ich die Straße. Alles musste man
selber machen! Gut, dass es dunkel war. Nicht mit dem Smart vorzufahren, war bloß
eine Vorsichtsmaßnahme gewesen. Wenn Tietje irgendwo auf der Lauer lag, sollte er
mich nicht sofort bemerken. Zwischen zwei parkenden Autos wartete ich einen Moment
und blickte mich nach allen Seiten um. Nichts Verdächtiges in Sicht. Dann zog ich
Tietjes Schlüsselbund hervor. Mal sehen: ein kleiner Briefkastenschlüssel, einer
für den Keller oder Speicher, noch so einer, dann der zu einem Fahrradschloss …
Drei Schlüssel blieben übrig, die zur Haustür passen konnten. Mit dem größten der
drei zwischen Daumen und Zeigefinger eilte ich zum Eingang hinüber.
Gleich der
erste Versuch saß. Ich war drin! Die gesamte Aktion hatte nur wenige Sekunden gedauert.
Im Hausflur
herrschte Stille. Es roch säuerlich. Wo befand sich Tietjes Wohnung? Linker Hand
die Briefkästen. Ich machte Licht, entdeckte seinen Namen in der dritten Reihe von
unten und huschte sofort weiter, hoch in den ersten Stock. Der empfing mich mit
gedämpfter Musik aus einer der Wohnungen. Glamour Rock, Achtzigerjahre. Hinter einer
anderen Tür wurde gestritten. Ich hätte gern mitdiskutiert, aber keine Zeit. Noch
eine Treppe nach oben. Wenn mir Tietje irgendwo auflauerte, dann hier.
Im selben
Moment ging das Licht aus.
Natürlich,
es hatte ja so kommen müssen. Immer, wenn es spannend wird, verlöscht das Licht.
In ganz Friedrichshain. Bild-Schlagzeile morgen früh: Stromausfall in der Hauptstadt.
Russische Atombombe kracht auf Berliner Umspannwerk. Merkel regiert bei Kerzenschein.
Aber vielleicht
war es auch keine Atombombe, sondern bloß die Zeitschaltuhr. In ein paar Metern
Entfernung schimmerte es schwach. Der Lichtschalter. Ein Adrenalinschub katapultierte
mich zu dem Schalter. Das Licht flammte auf. Ich war allein.
Durchatmen.
Jetzt die Wohnungstür. Gleich die erste war es. R. Tietje. Vor der Tür ein brauner
Fußabtreter: »Welcome!«
»Na, dann«,
murmelte ich und schloss auf. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Ich sah in eine
kleine, penibel aufgeräumte Diele, die vom Flurlicht ausreichend erhellt wurde.
Welcome … Wie viel Zeit blieb mir?
Abwarten.
Den Atem anhalten, um sich ganz auf externe Geräusche konzentrieren zu können. Oder
interne: aus der Wohnung stammend. In jedem Fall Geräusche außerhalb meines eigenen
Körpers, jenseits des rauschenden Blutflusses und des hämmernden Herzschlags.
Nichts.
Kein Geräusch. Niemand da.
Die Stille
gefiel mir nicht. Ich trat lärmend ein, drückte den Lichtschalter und warf die Wohnungstür
hinter mir ins Schloss. Rief: »Grüß Gottchen, Ralf! Die Kurpfalz ist zurück. Wir
können weiterratschen.«
Immer noch
nichts. Drei Türen gingen von der Diele ab. Ich stieß eine nach der anderen auf
und schickte lustige Botschaften in die dahinterliegenden Zimmer: »Schlüsselbund
schon vermisst? Hier ist er! Endlich sehe ich, wie die Profis so wohnen. Nicht so
schüchtern, Ralfi! Ich bin’s nur!«
Hinter der
ersten Tür prallte mein Ruf sofort gegen eine Wand, es handelte sich nämlich um
eine Art Abstellkammer. Dann kam das Bad, daneben ein größerer Raum. Ich trat ein
und knipste das Licht an. Tietjes Wohnzimmer. Sofa, Bücherwand, Flachbildschirm,
Tisch, seitlich eine
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