Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Begleitumständen. In einer Ecke des Raums hing nämlich eine Dartscheibe.
Drei Pfeile steckten in ihr, darunter einer genau in der Mitte. Um der Wahrheit
Genüge zu tun: Er steckte in der Stirn eines jungen Mannes, dessen Foto über die
12 geklebt war.
Voodoo in
Friedrichhain? Ich fühlte einen unerwarteten Sympathieschub für Tietje. Von wegen
Profi! Da kultivierte er einen hübschen Hass auf irgendjemanden, wie unsereins sich
über nörgelnde Chefs oder gierige Vermieter ärgert. Wobei Tietje als Selbständiger
keinen Chef hatte, und wie ein Vermieter sah der Jungspund auch nicht aus. Eher
wie Alices aktueller Verehrer, gegen den ein aus dem Leim gegangener 50-Jähriger
keine Chance hat.
Egal, ein
Foto war die Sache allemal wert. Ich zog den Dartpfeil aus der Stirn des Typen und
machte zwei Aufnahmen. Eines von ihm, aus nächster Nähe, und eines von der Scheibe.
Anschließend steckte ich den Pfeil an seinen Platz zurück.
»Sorry«,
murmelte ich.
Dann ging
ich. Schaute noch kurz unter Tietjes Matratze und in seinen Nachttischschrank –
nein, keine Schmuddelhefte zu entdecken –, knipste sämtliche Lichter aus, schloss
die Türen. Wo blieb der Hausherr? Ich glaubte, es zu wissen: Er war zu seinem Büro
gefahren. Und weil ich ihm dorthin nicht folgen durfte, hatte er mir seine beiden
Aufpasser an den Tisch gesetzt. Zumindest dies hatte funktioniert. Wo Tietje arbeitete,
und vor allem: woran er arbeitete, war mir nach wie vor ein Rätsel. Dafür hatte
ich ihn als Person ein wenig besser kennengelernt.
Lippenstift
und Dart-Voodoo! Seltsame Dinge trieben sie in Berlin.
Den Schlüsselbund
warf ich in Tietjes Briefkasten. Irgendwie würde er schon an das Ding gelangen.
Vorm Haus atmete ich erst einmal tief durch. Bevor ich nach einem Taxi winkte, schritt
ich ein Stückchen die Landsberger Allee entlang. Komisch: Auch wenn die Aktion mit
dem Schlüssel objektiv gesehen ein Misserfolg gewesen war, war ich bester Laune.
Pfiff sogar vor mich hin.
Erst als
ich in das Taxi stieg, wurde mir bewusst, was ich da die ganze Zeit pfiff. Einen Uraltsong von Arlo Guthrie: »You can get anything you want at
Alice’s restaurant.«
20
»Ein Privatdetektiv?«, sagte Katinka.
»Jetzt begreife ich gar nichts mehr.«
»Ich doch
auch nicht.«
»Warum schnüffelt
ein Privatdetektiv hinter mir her, steht in meinem Garten rum und macht Fotos?«
»Sag du
es mir.«
»Kann ich
nicht!«, schnaubte sie.
Danach herrschte
erst einmal Stille. Wir standen am Ufer des Liebenberger Sees und froren. So frühlingshaft
die Tage anmuteten, so kalt waren die Nächte. Über uns ein schwach bewölkter Himmel,
an dem einzelne Sterne blinkten. Ein Entenpaar schwamm geräuschlos vorbei. In der
Ferne quakten Frösche – oder sagen wir: Da waren Geräusche, die ich für Froschquaken
hielt. Obwohl Provinzler, hatte ich es nicht so mit den Tieren.
»Hoffentlich
gibt das keine Erkältung«, murmelte Katinka und zog die Schultern zusammen.
»Und dann
auch noch ein Berliner Ermittler«, sagte ich. »Das ist es, was mich am meisten irritiert.
Möglicherweise liegt Tietje mit seinem Gefasel von der größeren Sache, um die es
angeblich geht, gar nicht so falsch.«
»Was für
eine größere Sache? Damit kann ich nichts anfangen!«
»Um eine
Angelegenheit des Verbands zum Beispiel. Korruption beim DLV oder bei den Typen,
die bei der Vergabe der Olympischen Spiele mitstimmen dürfen.«
»Damit habe
ich doch nichts zu tun. Ich bin bloß Athletin.«
»Aber eine,
die auch unangenehme Wahrheiten anspricht. Oder würdest du vor einer Auseinandersetzung
mit dem Verband zurückschrecken?«
Sie zuckte
mit den Achseln. »Käme darauf an. Ich will vor allem eines: laufen. Und zwar in
London.«
»Sicher.«
Aus der
etwas entfernten Sauna am Seeufer drang Gelächter zu uns herüber. Fröhliches, männliches
und irgendwie nacktes Gelächter. Warum gab es eigentlich keine Sauna in der Unterdruckkammer?
Wenn die DDR nicht so prüde gewesen wäre, hätte der Sozialismus vielleicht eine
Chance gehabt.
»Sieh es
doch mal so«, sagte ich. »Der Mensch bei dir im Garten war kein Stalker und kein
Spanner, sondern bloß ein harmloser Schnüffler, der sogar vor einem Typen wie mir
den Schwanz einzog. Auch wenn wir nicht wissen, was er vorhat: Gefahr geht nicht
von ihm aus.«
»Wollen
wir’s hoffen.«
»Morgen
zeige ich dir ein paar Fotos, die ich bei Tietje gemacht habe. Vielleicht erkennst
du darauf etwas wieder, was uns auf die richtige Spur
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