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Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)

Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)

Titel: Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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uns aber einen Schrecken eingejagt«, rief die andere Tante schrill.
    Katinka
schwieg. Ich griff nach meiner Kaffeetasse, um sie mir gegen die Backe zu pressen,
beziehungsweise die Backe gegen die Tasse, was wahrscheinlich ziemlich blöd aussah,
aber es hielt meinen schweren Kopf im Gleichgewicht. Ihn vor lauter Erschöpfung
auf den Tisch plumpsen zu lassen, käme garantiert noch blöder. Die Heizkörper im
Wohnzimmer von Oma Glück arbeiteten auf Hochtouren, Gott sei Dank taten sie das,
aber die Wärme machte schläfrig.
    Auf der
Herfahrt hatte ich mich mit Kaffee wachgehalten. Mit Kaffee und den Erinnerungen
an die Kältekammer. Ankunft im Harz gegen zwei, kurze Begrüßung und sofort mit Katinka
zum Training. Ja, natürlich habe sie auf mich gewartet! Sie musste doch erfahren,
was mit Tietje passiert war. Also berichtete ich. Lange waren wir nicht unterwegs,
eine knappe Stunde nur, und die Zeit verging wie im Flug. Ich bereute, keine Handschuhe
mitgenommen zu haben. Wir hatten Anfang April, aber rund um den Brocken regierte
noch der Winter. Die Luft war eisig. Graue Wälder voller Findlinge, die Baumstämme
von Flechten überzogen. Begegnungen mit dick eingepackten Osterspaziergängern, die
nach Einkehrmöglichkeiten suchten. Einmal erreichten wir eine Anhöhe mit Fernblick
und hielten kurz an. Drei, vier Hügelketten nacheinander, zum Horizont hin immer
blasser werdend. Und dahinter: nichts. Keine Verbindung zum Rest des Landes. Der
Harz war ein Kontinent für sich, eine schwebende, selbstvergessene Insel.
    Schweigend
sahen wir in die Weite. Ich formte meine Hände zu einer Kugel und blies warme Luft
in die Öffnung zwischen den Daumen. Katinka putzte sich die Nase mit dem Taschentuch,
das sie immer dabei hatte. Ich versuchte, etwas Wichtiges zu denken, doch da war
nichts, nur die Kälte und die Unmöglichkeit, hinter den Horizont zu blicken.
    Wieder in
Schierke, stellte ich mich lange unter die Dusche. Danach wurden wir zum Kaffee
gerufen.
    »Der Druck«,
sagte Heiner kauend, »der Druck ist enorm. Ständig dieser Konkurrenzkampf unter
den Mädchen. Ihr könnt euch das nicht vorstellen. Da kommt man schon mal ins Grübeln,
ob sich die ganze Sache lohnt.«
    »Wie bitte?«,
rief Vater Glück und warf die Gabel auf den Tisch. »Ob es sich lohnt? Diese Frage
hätte ich mir auch gern gestellt, als ich damals für München trainierte! Aber erst
mal in einer solchen Position sein!«
    »Das kannst
du nicht vergleichen, Herbert.«
    »Natürlich
kann ich das. Ich hätte alles gegeben, um bei den Spielen dabei zu sein. Frag deine
Mutter, Katinka! Ein Jahr lang habe ich trainiert wie ein Verrückter, und wenn mich
diese verdammte Verletzung nicht gestoppt hätte …« Wütend nahm er die Gabel wieder
zur Hand.
    Ich löste
die Tasse von meiner Backe. »Sie waren nominiert und konnten nicht antreten?«
    »Fast«,
knurrte er. »Mit meiner Zeit über 10.000 Meter lag ich auf Platz 5 in Deutschland.
Das reichte natürlich nicht. Aber es sah gut aus, die Trainingswerte waren optimal,
ich hatte fest mit einer neuen Bestzeit gerechnet.« Er zuckte die Achseln. »Und
dann? Muskelfaserriss.«
    »Kein Wunder«,
murmelte Katinka, ohne aufzuschauen.
    »Ich wusste,
dass du das sagen würdest. Immer die gleiche Diskussion!«
    »Was ihr
für Umfänge gemacht habt! 200 Wochenkilometer Minimum. Und eure Intensitäten! Das
hält kein Körper aus.«
    »Die anderen
haben es ausgehalten. Mielke und Letzerich konnten starten. Andere Nationen haben
noch härter trainiert, und Virén ist Weltrekord gelaufen in München. Trotz seines
Sturzes nach vier Kilometern. Wenigstens dabei gewesen wäre ich gern, meinetwegen
als Letzter des Laufs.«
    Niemand
erwiderte etwas. War wohl so eine Art Familientrauma der Glücks: keine Olympiateilnahme,
keine heroischen Erzählungen, kein Ich-war-auch-dabei. Bloß ein gerissener Muskel.
    Schön, dann
blieb es halt an mir zu intervenieren.
    »Wenn ich
mich recht erinnere«, sagte ich, »war München ’72 das bis dahin schnellste Rennen
der Geschichte. Und dass Virén Blut gepanscht hat, gilt ja wohl als ausgemacht.
Ist Ihnen nie der Verdacht gekommen, dass die Konkurrenz flächendeckend gedopt hat?
Zum Beispiel, um noch härter trainieren zu können?«
    Na, da schauten
sie aber, die Verwandten Katinkas! Solches Expertenwissen aus dem Mund eines sportfernen
Privatdetektivs!
    »Und wenn
es so wäre?«, erwiderte Herbert Glück, Katinkas Vater. »Welche Lehre hätte ich daraus
ziehen sollen? Den Bettel hinschmeißen?

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