Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Natürlich wurde gemunkelt, über die Trainingsmethoden,
über chemische Wundermittel, über alles Mögliche. Plötzlich liefen uns die Sportler
aus der Ostzone in Grund und Boden. In den Kraftsportarten war es offensichtlich,
da nahm jeder, was der Pillenschrank hergab: Amis, Skandinavier, Russen. Es existierten
ja kaum Verbote. Aber wir Läufer … Für mich und meine Kollegen lege ich die Hand
ins Feuer. Was die anderen Nationen trieben, kann ich nicht sagen. Warum hätte ich
mir darüber den Kopf zerbrechen sollen?« Mit einem Blick, der Abwehr und Resignation
vereinte, hob er die Hände und ließ sie wieder fallen. »Verdacht, Verdacht … Irgendwie
verstehe ich Ihre Frage nicht. Mal war der eine von uns schneller, mal der andere.
Was sollte ich da mit Verdächtigungen kommen? Hätte doch ohnehin nichts beweisen
können.«
»Damals
nicht, das stimmt. Ich frage mich nur, wie ungetrübt das Bild einer solchen Veranstaltung
heute noch sein kann, wenn man längst weiß, wie dort betrogen wurde.«
»Aber genau
das ist es ja, was mich so aufregt«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf
die Tischdecke. Sein schmales, immer noch asketisches Gesicht lief rot an. »Dass
keiner die sportlichen Aspekte sieht. Es gab grandiose Wettkämpfe in München, sensationelle
Entscheidungen, der Weltrekord von Virén war nur eine von vielen. Aber woran denken
die Leute? An das verfluchte Attentat damals. An Politik! Und jetzt kommen Sie mir
mit Doping. Habe ich dafür ein Jahr meines Lebens gegeben? Wo bleibt da der Sport?«
»Also, wenn
ich dein Talent hätte, Katinka«, meldete sich der Cousin zu Wort, der am Ende des
Tisches saß, »würde ich mich von den Psychospielchen der Konkurrenz nicht verunsichern
lassen.«
»Es sind
keine Spielchen«, gab sie zurück. »Kim Starke hat mich gestern geschlagen. Und die
jungen Hüpfer aus Leverkusen saßen mir so dicht im Nacken.« Sie zeigte es an. »So
dicht, verstehst du?«
»Aber du
hast die Norm. Sie nicht.«
»Kim wird
sie knacken, da bin ich mir sicher. Und wenn es ganz dumm läuft, die anderen auch.«
»Nun mal
den Teufel nicht an die Wand.« Das war ihr Vater, der wieder seine normale Gesichtsfarbe
hatte. »Und selbst wenn: Du hast immer noch die besten Karten, Katinka. Du weißt
ganz genau, dass sie bei gleichen Vorleistungen im Marathon immer die erfahrenen
Athleten nehmen. Immer!«
»Jetzt,
wo die Feierabend zurückgezogen hat, bist du sogar der Captain«, ergänzte der Cousin.
»Du und die Möller. Es geht nur noch um den dritten Startplatz.«
Heiner hob
die Hand. »Dein Bienenstich ist hervorragend, Margarethe. Kann ich noch ein Stück
bekommen?«
»Aber sicher«,
freute sich die Jubilarin. »Greift zu! Greift alle zu.«
»Das hast
du doch nicht ernst gemeint vorhin«, erkundigte sich Katinkas Mutter und legte eine
Hand auf die ihrer Tochter. »Das mit dem Verzicht auf London. Oder doch?«
Katinka
schwieg. Sie sah so klein aus, wie sie da im Kreise ihrer Familie saß. Klein und
trotzig. Von der Frau ihres Cousins einmal abgesehen, war sie die Jüngste am Tisch.
Und die Talentierteste. Die man allerdings noch ein wenig erziehen musste. Ins rechte
Geleis bringen, auf den Erfolg fokussieren. Vater, Mutter, Großmutter: Das war keine
Familie, sondern ein Stück leibhaftiger deutscher Sportgeschichte. Turnen, Leichtathletik,
Laufen. Die Elite des Landes. Einmal fast Olympia. Aber bitte keine Politik!
Und bitte
keine Leichen in Kältekammern.
»Manchmal
glaube ich wirklich, es wäre das Beste, nicht zu starten«, sagte Katinka mit gepresster
Stimme. »Nun schaut nicht so belämmert! Ich habe schließlich Familie, an die muss
ich auch denken. Dauernd müssen die Kinder auf mich verzichten, von Heiner ganz
zu schweigen.« Hilfesuchend sah sie zu ihrem Mann hinüber. Danach sogar zu mir.
»Familie,
ja«, brummte ihr Vater. Fehlte nur noch, dass er sagte: »Das hättest du dir vorher
überlegen sollen!« Was dann passiert wäre, wagte ich mir nicht auszumalen. Aber
er tat es nicht. Versuchte es stattdessen auf die versöhnliche Tour: »Ich bin sicher,
dass sich das regeln lässt. Olympia findet nur alle vier Jahre statt, und deine
Familie hast du hoffentlich noch sehr, sehr lange.«
Einen Moment
lang sah es aus, als wolle Heiner etwas erwidern. Doch er leckte sich bloß ein bisschen
Sahne aus dem Mundwinkel.
»Außerdem«,
fuhr Katinkas Vater fort, »bist du es Simon schuldig. Meiner Meinung nach.«
Die Stille,
die diesen Worten folgte, ließ mich aufhorchen. Von
Weitere Kostenlose Bücher