Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Kulturprogramms.«
»Kultur?«
Ich muss
eine ziemlich entgeisterte Miene gezogen haben, denn die drei Damen am Tisch brachen
in Gekicher aus. Nur Katinka blieb ernst und schweigsam.
»Ja, da
staunen Sie, junger Mann«, amüsierte sich die Oma. »Kein Olympia ohne Kulturveranstaltungen,
das ist noch heute so. Damals legte man sich besonders ins Zeug: mit Theateraufführungen,
Musik und Tanz. Es gab sogar Medaillen für die besten Beiträge.«
»Medaillen
für Musik? Sie meinen Gold, Silber und Bronze?«
»Samt Siegerehrung
im Stadion, mit Nationalhymne und allem Drum und Dran.«
»Das muss
wunderbar gewesen sein«, schwärmte Tantchen Nummer eins.
»Wo ist
die Palucca?«, fragte Tantchen Nummer zwei und blätterte weiter. Auf den Fotos war
der Innenraum des Berliner Olympiastadions zu erkennen. Kinder und Jugendliche bevölkerten
den Rasen, mal chaotisch durcheinander wirbelnd, mal in strenger Ordnung. Das Ganze
wirkte wie ein Mittelding aus Sport und Tanz, und darüber stand: »Olympische Jugend,
von C. Diem«.
»Am Tag
der Eröffnung«, wiederholte Oma Glück, »das müssen Sie sich vorstellen!«
»Vor 100.000
Zuschauern«, sagte die eine Tante.
»Vor Besuchern
aus aller Welt«, die andere.
Ich gähnte.
Meine Güte, wie es mich schüttelte vor Müdigkeit! Ich suchte auf den Fotos nach
Nazi-Symbolen, konnte aber keine entdecken. Kein Hakenkreuz, keine SS-Uniform. Bloß
die Kinder sahen irgendwie arisch aus.
»Wo ist
bloß die Palucca?«, fragte Tantchen zwei.
»Wer ist
denn …?«, begann ich, konnte den Satz aber nicht beenden, weil es mir erneut die
Kiefer auseinander riss.
»Sie sollten
sich ausschlafen«, stellte Katinkas Oma fest. »Und dann kommen wir auch noch mit
unseren Geschichten von damals!«
»Nein, das
ist hochinteressant, wirklich. Nur frage ich mich …«
»Die Wigman!«,
rief Tantchen eins und zeigte auf das Foto einer Tänzerin in Wallekleidern. »Richtig,
die war ja auch dabei!«
»Alles,
was Rang und Namen hatte«, nickte das Geburtstagskind. »Die Musik, die dazu gespielt
wurde, stammte von Orff.«
»Und Hitler?«,
gähnte ich. Von diesem Orff hatte ich mal gehört, aber wer zum Teufel war die Palucca?
»Der wird
wohl auch da gewesen sein«, erwiderte sie kurz angebunden. »Ich weiß, was Sie sagen
wollen. Aber eines kann ich Ihnen versichern: Unsere Aufführung war unpolitisch.
Genau wie die Spiele überhaupt. Und so soll es auch sein. Für alle Zeiten.«
Sie klappte
das Album zu.
26
Was ich in diesen Tagen an Kilometern
auf Deutschlands Straßen zurücklegte, spottete jeder Beschreibung. Dabei hatte man
mich einmal als Fahrradbegleiter einer Läuferin engagiert. Stattdessen würde ich
in absehbarer Zeit auf dem Sitz eines Smart festwachsen. Schon am nächsten Morgen
machte ich mich früh wieder nach Berlin auf, ein dickes Kuchenpaket von Oma Glück
im Gepäck. Ostermontag: freie Straßen, kaum Laster, ab und zu ein gutgelaunter,
weil ausgeschlafener Feiertagschauffeur. Ich war weder das eine noch das andere.
Als ich auf den ersten Kilometern das Fenster herunterkurbelte, hörte ich die Harzvöglein
zwitschern. Der Frühling hatte sich endgültig durchgesetzt.
Ein Frühling,
den Ralf Tietje nicht mehr erleben würde.
Was seine
Freunde wohl zu seinem Tod sagten? Ich überlegte kurz, im Leuchtturm vorbeizuschauen,
um die Stimmung zu erkunden, doch nach einem Blick zur Uhr gab ich dieses Vorhaben
auf. Wenn ich um elf im Berliner Polizeipräsidium sein wollte, blieb keine Zeit
für einen Ausflug nach Lichtenberg, oder wo immer die Kneipe lag. Außerdem war sie
am Vormittag bestimmt geschlossen.
Als ich
dem zuständigen Kommissar die Hand schüttelte, gab es gleich was zu lachen. Der
Kerl hieß nämlich ebenfalls Fischer, genau wie mein Heidelberger Lieblingspolizist,
nur aussehen tat er ganz anders. Er war jünger, blondgelockt und sportlich, außerdem
lispelte er wie ein Siebenjähriger mit Zahnlücke. Bei reifen Damen kam das bestimmt
klasse an.
»Ich hätte
da was für Sie«, begrüßte er mich. »Wir machen gleich mal eine kleine Fahrt.«
Also wieder
ins Auto. Im Dienstwagen kutschierten wir durch die Stadt, bestimmt eine halbe Stunde
in südliche Richtung, bis zu einer Schrebergartensiedlung. Unterwegs erklärte mir
der Lispel-Fischer, wie es um die Zuständigkeiten der Länder Berlin und Brandenburg
im Fall Tietje bestellt war, aber das vergaß ich sofort wieder. Hatte genug damit
zu tun, nicht dauernd zu gähnen.
»Kurze Nacht?«,
fragte er
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