Glueckstreffer - Roman
hierherfahren musste, wollte ich nie jemanden mit dabeihaben. Aber zusammen mit dir erscheint mir die Vergangenheit erträglicher. Dafür danke ich dir.«
Garrett drückte sie sanft an sich, ohne jedoch den Blick von dem Grabstein zu wenden. »Das verstehe ich gut.«
Sophie ging dabei geflissentlich über Garretts plötzliche Nachdenklichkeit, ja geradezu Verschlossenheit, hinweg. Der tragische Unfalltod ihrer Eltern hatte bei ihren Freunden stets sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Warum sollte Garrett eine Ausnahme sein?
Sophie überließ ihn seinen Gedanken, griff in ihre Handtasche, zog eine winzige Schachtel heraus und öffnete sie. Dann legte sie die darin enthaltene Praline auf das Grab, griff nach einem schönen runden Stein an der unteren linken Ecke des Grabsteins und ließ ihn in ihre Tasche gleiten.
»Wozu die Praline?«, fragte Garrett.
»Nur eine kleine Geste der Erinnerung«, antwortete sie leise.
»Eine Erinnerung? Woran?«
Sophie stand auf, schlang die Arme um Garrett und hängte einen Finger in eine seiner Gürtelschlaufen ein. »Wenn du lieb zu mir bist, erzähle ich es dir vielleicht eines Tages.«
Er sah auf sie herab. »Bin ich denn nicht lieb zu dir?«
»O doch!« Sie lachte. »Und wenn es so bleibt, teile ich irgendwann alle meine kleinen Geheimnisse mit dir.«
»Verstehe. Und was ist mit dem Stein? Verrätst du mir wenigstens das?«
Sophie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. »Ja. Das hast du dir in jedem Fall verdient.« Dann gab sie ihm einen weiteren langen Kuss.
Sophie, die die Augen geschlossen hielt, sah auf diese Weise nicht, dass Garrett seinen Blick noch immer nicht von dem Grabstein wenden konnte.
Kapitel 13
Wer mit Schmutz wirft, hat selbst Dreck am Stecken.
NACHDEM SIE DEN FRIEDHOF verlassen hatten, hellte sich Garretts Stimmung wieder etwas auf. Sophie registrierte es mit Dankbarkeit. Den restlichen Nachmittag verbrachten sie damit, über den Markt an der Pike Street in Seattle zu schlendern und bei einem Straßenhändler Shish Kebabs als vorgezogenes Abendessen zu verzehren. Der Duft der Grillspieße hatte sie angelockt.
Zurück auf dem Parkplatz, machten sie sich auf in südlicher Richtung aus der Stadt hinaus und nach Gig Harbor. Als sie die Narrows Bridge überquert hatten, erinnerte Sophie Garrett daran, dass sie ihm noch erklären wollte, was es mit dem Stein auf dem Grab ihrer Eltern auf sich hatte. Sie nahmen die erste Ausfahrt nach der Brücke und bogen in eine kleine Straße ab, die sich ostwärts durch eine Wohngegend mit dichtem Baumbestand schlängelte. Sophie bat Garrett, in der Nähe eines schmalen Fußweges anzuhalten, der zwischen zwei Häusern hindurchführte.
»Und was machen wir hier?«
»Von hier aus gehen wir zu Fuß weiter«, erwiderte Sophie, nahm den runden Stein aus der Tasche, stieg aus und lief voraus.
Nach zweihundert Metern endete der Pfad am Ufer des Tacoma Narrows, dem Seitenarm des Puget Sounds, der das Festland von Washington von der Olympic-Halbinsel trennte. Über ihnen verlief die Schnellstraße über die Narrows Bridge.
Um den Verkehrslärm auf der Brücke zu übertönen, fragte Sophie laut: »Weißt du, was da draußen liegt?« Sie deutete auf eine Stelle im Wasser unterhalb der Brücke.
Garrett sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Ist das eine Fangfrage?«
»Nicht unbedingt.«
»Na gut. Meinst du das Wasser oder die Brücke?«
»Keins von beiden. Jedenfalls nicht direkt«, schränkte sie ein. »Was ich meine, befindet sich im Wasser. Oder vielmehr unter der Wasseroberfläche.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Garrett suchte die Wasserfläche nach einem verräterischen Hinweis ab.
»Als ich in der zweiten Klasse war, hat mein Vater mich mehrmals hierhergebracht. Er liebte Hängebrücken. Sie faszinierten ihn. Jedenfalls hat er mir alles über die alte Narrows Bridge erzählt. Vieles hatte ich im Lauf der Jahre vergessen. Erst als ich mich später damit beschäftigt habe, ist es mir wieder eingefallen. Als die Brücke 1940 für den Publikumsverkehr geöffnet wurde, galt sie als ein Kunstwerk, als Wunder der Ingenieurskunst.«
»Die alte Narrows Bridge? Was ist mit ihr geschehen?«
»Vier Monate nach der Eröffnung ist sie eingestürzt. Der Wind, der ständig über den Tacoma Narrows bläst, hatte sie in zu starke Schwingungen versetzt. Auf der Brücke ging es zu wie auf einer Achterbahn. Die Stahltrossen hielten der Beanspruchung nicht mehr stand, sie brachen, und
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