Glueckstreffer - Roman
freudige Überraschung!« Ellen drückte Sophie erneut. Doch so langsam dämmerte ihr, dass sie mit ihrer Begeisterung offenbar allein war.
Die drei gingen durch das Wohnzimmer in die Küche und ließen sich rund um den Küchentisch nieder. Ellen blickte nervös von einer zur anderen, als ahnte sie bereits, dass der Anlass für den späten Besuch kein freudiger war.
Sophie fuhr mit der Hand über die Holzfläche des Tisches und spürte dabei die Buchstaben und Worte, die sich in das weiche Holz eingedrückt hatten, wo Evalynn und sie selbst bei den Hausaufgaben die Stifte zu kräftig über das Papier geführt hatten. Während sie die Konturen ihres eigenen Namens in der Holzoberfläche mit dem Fingernagel nachfuhr, sah sie zu Ellen auf und zwang sich zu einem Lächeln. Noch immer sagten die beiden jungen Frauen kein Wort.
»Es hat Spaß gemacht, gestern Abend all die Post zu lesen«, begann Ellen schließlich leise, als das Schweigen allmählich bedrückend wurde. »Habt ihr noch interessante Briefe entdecken können?«
»Einige«, antwortete Sophie knapp.
Während des erneuten Schweigens wanderte Sophies Blick durch den Raum, in dem sie in ihrer Jugend so viel Zeit verbracht hatte. Er wirkte jetzt kleiner als damals, als sie noch ein Schulmädchen gewesen war. Obwohl das Wohnzimmer der größte Raum der Wohnung war, hatte sich das Leben hauptsächlich in der Küche abgespielt. Sie hatten dort die Mahlzeiten eingenommen, miteinander geredet, gelernt und ferngesehen, manchmal sogar alles auf einmal. Sophie fragte sich, wie viele Stunden ihrer Kindheit sie wohl auf dem Stuhl verbracht hatte, auf dem sie jetzt saß.
Wie von selbst wanderten ihre Gedanken zu jenem Tag zurück, als sie zum ersten Mal das Zuhause von Officer Ellen Monroe betreten hatte. Draußen hatte es in Strömen geregnet; noch heftiger sogar als in jener Nacht, als Ellen am Straßenrand in Seattle auf sie zugekommen war. An dem Tag hatte es wie aus Eimern gegossen, und der Wind hatte den Regen fast waagerecht gegen das Wohnhaus gepeitscht. Die Sozialarbeiterin hatte einen Schirm dabeigehabt, jedoch keine Anstalten gemacht, ihn mit Sophie zu teilen. Bis sie ihren Koffer von der Rückbank des Dienstwagens genommen und zur Eingangstür geschleppt hatte, war sie nass bis auf die Haut gewesen. Ihre blonden Locken hatten strähnig an Kopf und Stirn geklebt.
Sophie erinnerte sich deutlich an den Widerwillen, mit dem sie gekämpft hatte, während sie ihren Koffer die Treppen in den dritten Stock hinauftrug. Die Sozialarbeiterin hatte es eilig, aber Sophie ließ sich Zeit, denn für sie war es zu diesem Zeitpunkt bereits das vierte Mal, dass sie sich innerhalb von nur fünf Monaten zu einer neuen Pflegestelle aufmachte. Sie war nicht sonderlich erpicht darauf gewesen, die neue Familie kennenzulernen.
Der Aufenthalt bei der ersten Pflegefamilie war von vorneherein als Provisorium gedacht und deshalb auf eine Woche begrenzt gewesen. So lange benötigte das Jugendamt normalerweise, um einen dauerhaften Platz in einer anderen, geeigneten Familie oder vielleicht sogar Adoptiveltern zu finden. Als dies nicht gelang, kam Sophie zu einer alleinstehenden Frau namens Marion Mason, die Pflegekinder aufnahm und die sich nicht scheute, den Staat dafür tüchtig zur Kasse zu bitten. Schließlich fand das Sozialamt jedoch heraus, dass sie mit dem Geld ihre Drogensucht finanzierte. Nach sieben Wochen wurden Marion Masons leibliche Tochter, ein frühreifes Mädchen namens Evalynn, Sophie und ein weiteres Pflegekind in einem weißen Kleintransporter der Sozialbehörde abgeholt und zu neuen Pflegestellen im Norden Washingtons gebracht.
Sophie war die Letzte, die an jenem Tag bei ihrer zukünftigen Pflegefamilie abgeliefert wurde, denn diese lebte in der am weitesten nördlich gelegenen Stadt Everett. Und sie hatte Glück, denn ihre Pflegeeltern, ein liebenswertes kinderloses Ehepaar, die Bards, hatten ein gutes Herz und nahmen nur aus purer Nächstenliebe gelegentlich Kinder in Not bei sich auf. Sophies Pech war jedoch, dass das Herz ihres Pflegevaters nur bildlich gesprochen gut war. Mr. Bard erlitt zwei Monate nach Sophies Ankunft einen Herzinfarkt. Sophie sah von einem Küchenstuhl aus zu, wie die Notärzte mitten im Wohnzimmer versuchten, ihn wiederzubeleben, bevor sie ihn auf einer Liege hinaustrugen. Mrs. Bard weinte hysterisch, und da niemand offen aussprach, wie die Fahrt zum Krankenhaus für Mr. Bard geendet hatte, musste Sophie vom Schlimmsten
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