Glut der Gefuehle - Roman
Selbstkontrolle hatte sie erschreckt. Hinter sich hörte sie Mrs Garrety leise mit der Zunge schnalzen. Sorgsam verstaute die alte Frau die Kostüme im Schrank.
»Lassen Sie das Zeug einfach liegen«, fauchte India.
»Warum so unwirsch, Liebes? Mir zürnen Sie doch gar nicht.«
»Nein, Ihnen nicht«, gab India zu und starrte in den Spiegel.
»So habe ich Sie noch nie gesehen, Miss. Sie waren... irgendwie|...«
Als der Garderobiere die Worte fehlten, seufzte India laut auf. »Nie zuvor wurde ich so provoziert. Solche Zwischenfälle passierten nur am Anfang – in weniger renommierten Theatern. Meistens waren es die Studenten auf den Stehplätzen, die sich in eine Aufführung einmischten und ihr eigenes kleines Drama inszenierten. Mit diesen jungen Burschen wurde ich leicht fertig.« Sie wandte sich vom Spiegel ab. »Und ich denke, ich gewann ihren Respekt, weil ich niemals klein beigab.«
»Das weiß ich, Liebes. Ich war dabei. Erinnern Sie sich?«
Geistesabwesend strich sich India über die Stirn. »Ja|...«
Mrs Garrety schloss den Schrank. »So, hier bin ich fertig.« Mit schmalen Augen musterte sie das bleiche Gesicht ihrer Herrin. »Eine Migräne? Soll ich eine Medizin vorbereiten?«
»Nein.« Hastig ließ India die Hand sinken. Dann fügte sie etwas sanfter hinzu: »Nein, danke. Es war ein langer, anstrengender Tag, und ich bin einfach nur müde.«
»Wie Sie wünschen.«
»Glauben Sie, die Kritiker werden erwähnen, was heute Abend geschehen ist?«
»Deswegen sollten Sie sich keine Sorgen machen. Es waren die Gentlemen, die sich unmöglich benommen haben. Wahrscheinlich waren sie betrunken. Aber trotz all dieser Possen haben Sie das Publikum die ganze Zeit über
gefesselt.« Mrs Garrety half der Schauspielerin aus ihrem Kostüm und hängte es über einen Stuhl, um es später zu bügeln. »Es ist schade, dass bloß so wenige Leute miterlebten, wie Sie Seiner Lordschaft die Leviten lasen.«
Überrascht schaute India zu ihrer Garderobiere auf. »Heute Abend haben Sie meine Verehrer besonders energisch weggeschickt.«
»Oh ja, ich sah den Viscount kommen – und dann seine Freunde|... Welche Szene sich hier abspielen würde, konnte ich nicht ahnen. Diesen wundervollen Fausthieb hätten wirklich mehr Leute beobachten sollen.«
Dass Viscount Southerton um diese Züchtigung gebeten hatte, verschwieg India. Was sie davon hielte, wusste sie nicht. Vielleicht hatte er mit seinen Freunden tatsächlich eine lächerliche Wette abgeschlossen. Andererseits... Wie auch immer, zu diesem Thema wollte sie Mrs Garretys Meinung nicht hören. »Würden Sie Doobin bitten, eine Droschke zu holen?«
»Natürlich.« Als die alte Frau in die Garderobe zurückkehrte, legte India gerade ihre Pelisse um die Schultern. »Jemand müsste Sie begleiten, Liebes.«
»Nein, ich kann auf mich selbst aufpassen.«
Mrs Garrety schnalzte wieder mit der Zunge. »Glauben Sie mir, Sie brauchen einen Beschützer. So viele Verehrer machen sich jeden Abend an Sie heran. Und ich habe nicht genügend Hände, um sie alle hinauszuschubsen. Übrigens – Sie haben zu wenige Fäuste, all die dreisten Galane abzuwehren. Deshalb sollten Sie sich einen Beschützer zulegen.«
Als Mrs Garrety die Garderobe verließ, schaute India ihr unbehaglich nach. In der stillen Einsamkeit, die den Raum jetzt erfüllte, kehrte die Angst zurück. Dagegen anzukämpfen, war sinnlos und würde sie nur ermüden. Zitternd
rang sie nach Luft und berührte den Posamentenverschluss am Halsausschnitt ihrer Pelisse.
Brauche ich einen Beschützer?, fragte sie sich stirnrunzelnd. Plötzlich erinnerte sie sich an die Abschiedsworte des Viscounts. Sie können nicht erwarten, dass ich Sie immer beschützen werde, Miss Parr.
Und wenn Lord Southerton ihr Beschützer wurde? Viel zu heftig hämmerte ihr Herz gegen die Rippen, während sie zum Hinterausgang des Theaters eilte und in die Anonymität einer schwarzen Droschke flüchtete.
Wie erwartet, erwiesen sich die Lords Bervin und Grissom als verlässliche Klatschmäuler. Noch am selben Abend verkündeten sie, was sie in Miss India Parrs Garderobe gesehen – oder fast gesehen – hatten. Sie saßen an einem Spieltisch im Simon’s, und die Geschichte sprach sich sofort herum.
Am nächsten Morgen wusste ganz London, was sich im Drury Lane ereignet hatte.
Als Southerton am Nachmittag seine Eltern besuchte, war dort auch seine Schwester Emma zugegen, die ihn über das gewaltige Ausmaß seines Erfolgs informierte.
»Sei
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