Glut der Verheißung - Kleypas, L: Glut der Verheißung - Seduce me at sunrise
Augen seinem Blick auswichen, wusste Kev, dass es Leo nicht gutging. Er wollte Leo von der Totenwache fortbringen, wenn nötig mit Gewalt, und ihn ins Bett stecken, damit er Kräfte für die anschließenden Tage sammeln konnte. Aber es wäre grausam, Leo die letzten Stunden mit der Frau zu versagen, die er liebte.
»Wenn sie verstirbt«, sagte Kev unverblümt, »dann schickt ihn nach Hause. Aber lasst ihn nicht alleine gehen. Sorgt dafür, dass ihn jemand bis zur Türschwelle der Hathaways begleitet. Habt Ihr verstanden?«
»Ja, Sir.«
Zwei Tage später kehrte Leo nach Hause zurück.
»Laura ist tot«, sagte er und brach vor Trauer und hohem Fieber zusammen.
Viertes Kapitel
Das Scharlachfieber, das über das Dorf hinwegfegte, hatte besonders die sehr jungen und alten Menschen befallen. Es gab nicht genügend Ärzte, um die Kranken zu pflegen, und kein Außenstehender wagte es, nach Primrose Place zu kommen. Nachdem der erschöpfte Doktor die beiden Patienten untersucht hatte, verschrieb er heiße Essigumschläge für die Kehle. Außerdem gab er ihnen eine Tinktur auf der Basis von Eisenhut. Sie schien weder bei Win noch Leo Wirkung zu zeigen.
»Wir tun nicht genug«, sagte Amelia am vierten Tag zu Kev. Keiner von beiden hatte ausreichend Schlaf bekommen, da sie sich bei der Pflege um den kranken Bruder und Win abwechselten. Amelia kam in die Küche, in der Kev gerade Teewasser kochte. »Bisher haben wir nichts weiter getan, als ihnen beim Dahinsiechen Trost zu spenden. Es muss doch etwas geben, um dem Fieber Einhalt zu gebieten. Ich werde es einfach nicht zulassen.« Sie stand zitternd da. Und sah so verletzlich aus, dass sich Kevs Herz bei ihrem Anblick schmerzhaft zusammenzog. Ihm war unwohl bei dem Gedanken, andere Menschen zu berühren oder selbst berührt zu werden, aber ein Anflug von Geschwisterliebe ließ ihn zu ihr eilen.
»Nein«, sagte Amelia rasch, als sie erkannte, dass er sie umarmen wollte. Kopfschüttelnd wich
sie zurück. »Ich … Ich bin nicht die Sorte Frau, die sich an andere anlehnt. Ich würde zusammenbrechen.«
Kev verstand sie. Für Menschen wie sie und ihn bedeutete Nähe zu viel.
»Was sollen wir nur tun?«, flüsterte Amelia und schlang sich die Arme um den Körper.
Kev rieb sich die müden Augen. »Hast du jemals etwas von einer Pflanze namens Tollkirsche gehört?«
»Nein.« Amelia war nur mit den Kräutern vertraut, die sie zum Kochen benutzte.
»Sie blüht ausschließlich nachts. Sobald die Sonne aufgeht, stirbt die Blume. In meiner Sippe gab es einen Drabengro , einen ›Giftmischer‹. Manchmal hat er mich losgeschickt, damit ich die Pflanze pflücke. Er erzählte mir, die Tollkirsche sei das mächtigste Gewächs, das er kenne. Sie könne einen Menschen umbringen, aber ihn gleichzeitig von der Schwelle des Todes zurückholen.«
»Hast du je gesehen, ob es funktioniert?«
Kev nickte und bedachte sie mit einem argwöhnischen Seitenblick, während er sich die angespannte Nackenmuskulatur massierte. »Ich habe gesehen, wie es hohes Fieber heilt«, murmelte er. Und wartete.
»Hol es«, sagte Amelia mit bebender Stimme. »Womöglich bedeutet es ihren Tod. Aber sterben würden sie ohnehin.«
Kev kochte die Pflanzen, die er am Rand des Dorffriedhofs gefunden hatte, zu einem dünnen schwarzen Sirup ein. Amelia stand neben ihm, während er
den tödlichen Sud abseihte und in einen kleinen Eierbecher goss.
»Leo zuerst«, sagte Amelia entschlossen, obwohl ihre Gesichtszüge von Zweifeln geplagt waren. »Ihm geht es schlechter als Win.«
Sie eilten an Leos Bett. Es war erstaunlich, wie schnell ein Mensch durch das Scharlachfieber abbaute, wie ausgemergelt ihr kräftiger Bruder aussah. Leos hübsches Gesicht war nicht wiederzuerkennen, derart geschwollen und aschfahl war es. Seine letzten verständlichen Worte hatte er vor einem Tag gesprochen, als er Kev angefleht hatte, ihn endlich sterben zu lassen. Sein Wunsch würde ihm wohl bald erfüllt werden. Allem Anschein nach war seine Bewusstlosigkeit nur Stunden, wenn nicht gar Minuten, entfernt.
Amelia eilte zum Fenster und riss es auf, ließ die kalte Luft den scharfen Geruch nach Essig fortwehen.
Leo stöhnte und rührte sich kaum merklich, als Kev ihm den Mund öffnete und vier oder fünf Tropfen des Suds auf seine trockene, rissige Zunge träufelte.
Amelia setzte sich neben ihren Bruder, strich ihm durchs stumpfe Haar, küsste ihm die Stirn.
»Wenn es … den gegenteiligen Effekt haben sollte«, sagte sie, »wie lange
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