Glut und Asche
schrecklichen Ereignisse an der kalten Küste Isengards noch einmal zu durchleben. Als sich schlie ß lich das erste Grau der anbrechenden Dämmerung vor dem schmalen Fenster zeigte, war er so erleichtert gewesen, als hä t ten sich nach jahrelanger Gefangenschaft endlich die Tore eines Gefängnisses vor ihm geöffnet.
Andrej war nicht der Erste, den es zu so ungewöhnlich früher Stunde aus dem Bett getrieben hatte. Es war warm im Haus. Im Kamin brannte ein prasselndes Feuer, und Abu Dun saß in einer beinahe komisch anmutenden Haltung auf einem der winzigen Stühle, die zu der zierlichen Einrichtung des Westminster g e hörte und trank Tee aus einer Tasse, die so aussah, als würde sie schon in Stücke brechen müssen, wenn seine gewaltigen Pranken ihr auch nur nahe kamen. Ein Korb mit frisch geb a ckenem, köstlich duftendem Brot stand vor ihm auf einem Tischchen, das so niedrig war, dass er gar nicht erst versucht hatte, die Knie darunterzuschieben. Zu Andrejs nicht geringer Überraschung war er nicht allein. Miss Torrent saß bei ihm und trank ebenfalls Tee. Die beiden schienen, zumindest bevor er die Treppe hinabkam und sie ihn bemerkte, in ein sehr vertra u tes Gespräch vertieft gewesen zu sein. Und das war nun wir k lich ein ungewöhnlicher Anblick. Wie nahezu jeder, der Abu Dun zum ersten Mal sah, war auch Miss Torrent beim Anblick des riesenhaften Nubiers zurückgeschreckt. Sie hatte sogar g e zögert, ihnen die beiden Zimmer zu vermieten, und sich letz t endlich nur dazu durchgerungen, weil sie das Geld bitter nötig gehabt hatte. Der Krieg war zwar seit einigen Jahren vorbei, doch der nächste warf bereits seine Schatten voraus, und die Pest, die im vergangenen Winter in der Stadt gewütet hatte, hatte die Menschen zusätzlich gebeutelt und nicht nur die arme Bevölkerung des Landes dezimiert. Und wo es weniger Me n schen gab, gab es auch weniger Bedarf an Fremdenzimmern. Andrej hatte auch danach nicht gefragt, aber er argwöhnte, dass Abu Dun und er seit langer Zeit die ersten Gäste waren, die für mehr als eine Nacht hier einkehrten. Er war diskret genug g e wesen, die Frage niemals zu stellen, war sich aber sicher, dass sie ihre Angst vor Abu Dun nie abgelegt hatte.
Umso erstaunter war er nun, Abu Dun und ihre grauhaarige Wirtin in einem durchaus vertraulich anmutenden Gespräch vorzufinden - das allerdings abrupt e n dete, als Miss Torrent seine Schritte auf der Treppe hörte. Sie fuhr erschrocken z u sammen und sprang dann so hastig hoch, dass der Tee übe r schwappte und sie die Tasse vorsichtig und mit beiden Händen auf den Tisch zurückstellen musste, um nicht noch mehr zu verschütten.
»Oh, wie ungeschickt von mir«, sagte sie. »Warten Sie - ich hole gleich einen Lappen und mache das sauber« Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wie mir das passieren konnte. Ich werde anscheinend tatterig auf meine alten Tage.«
Andrej war viel zu perplex, um irgendetwas darauf zu erw i dern. Verwirrt sah er ihr nach, während sie mit schnellen, tri p pelnden Schritten hinter der Tür zur angrenzenden Küche ve r schwand. »Nehmen Sie doch Platz, Mister Delany «, rief sie, schon außerhalb seiner Sichtweite. »Ich bringe Ihnen gleich ein G e deck.«
Andrej nahm nicht Platz, sondern sah die offen stehende Tür und Abu Dun abwechselnd und immer noch recht verwirrt an. Der Nubier sah so unausgeschlafen und müde aus wie er selbst, und Andrej vermutete, dass er in der zurückliegenden Nacht nicht sehr viel mehr Erholung gefunden hatte. »Hast du mir e t was zu sagen, Pirat?«, fragte er.
Abu Dun legte fragend den Kopf auf die Seite.
»Ich dachte immer, für Hexerei wäre ich hier zuständig«, fuhr Andrej fort, während er sich einen Stuhl heranzog und z ö gernd darauf Platz nahm. Er deutete auf die offen stehende K ü chentür. Sie hörten, wie Miss Torrent dort emsig hantierte und klimpe r te. »Du hast sie verzaubert, oder? Gestern hätte sie noch jedes Mal am liebsten das Kreuzzeichen geschlagen, wenn sie dich nur gesehen hat.«
Abu Dun grinste breit und stellte die Teetasse mit einem G e schick und einer Vorsicht auf den Tisch zurück, die niemand seinen riesigen Händen zugetraut hätte. »Das ist nur mein n a türlicher Charme«, behauptete er. »Du weißt doch, wie ich im Allgemeinen auf Frauen wirke.«
»Eben«, erwiderte Andrej.
Abu Dun schüttelte heftig den Kopf. Sein schwarzer Turban, den er offenbar nur nachlässig gebunden hatte, verrutschte bei
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