Glutnester
»Am Anfang meiner Karriere gab es einen Zwischenfall mit dem Narkosemittel Halothan. Ist nicht ungefährlich für die Leber und deshalb nicht mehr im Einsatz. Damals deuteten rote Flecken im Gesicht auf Halothan hin.« Elsa seufzt. »Und alles zuvor Gesagte war nicht länger Spekulation, sondern Tatsache. Könnte es heute nicht ähnlich sein? Nur, dass es sich um ein anderes Narkosemittel handelt?«
Hörnchen zögert unmerklich, als könne er es nicht glauben, und nickt dann. »Kompliment«, lobt er. »Am liebsten würde ich Sie auf der Stelle nach München mitnehmen, in die Rechtsmedizin, Frau Kollegin.«
4. Kapitel
Am nächsten Morgen – ein Regenmeer liegt über dem Achental und alles versinkt in einer Farbe: nachtgrau – bekommt Elsa unerwartet Besuch.
Nach mehrmaligem Klingeln öffnet sie, noch nicht geduscht und im Bademantel, die Tür. Der Wind schlägt ihr wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Sie weicht zurück, doch Schutz bietet das nicht. Vor ihr steht ein Mann: riesig von Wuchs, blasser Teint, schmale Lippen, die wie Strichskizzen wirken, so fein und malerisch sind sie, rotstichige, gepflegte Haare. Haare, die im Grau des frühen Tages, der an einen verwechselten Abend oder eine verfrühte Nacht denken lässt, fast ein Leuchtfeuer entfachen. Ein Anblick, durchaus wohlgeraten, muss Elsa zugeben.
»Servus und guten Morgen. Ich bin der Speckbacher Gerd. Journalist bei der Chiemgau-Zeitung. Ich hätt ein paar Fragen. Bezüglich der Morde in Kruchenhausen und Point.«
»Falscher Zeitpunkt. Außerdem … ob es sich um Mord handelt, steht in beiden Fällen noch nicht fest«, behauptet Elsa und zieht sich den Bademantel fester um den Körper. Sie hat keine Lust, in diesem Stadium der Ermittlungen bereits Auskünfte an die Zeitung zu geben, und will die Tür, die sie vor dem Wind verteidigen muss, schließen. Doch Gerd Speckbacher hat seinen Fuß in die Ritze des Türstocks geschoben – dem Wind dadurch eine neue Chance bietend – und grinst wie ein Losverkäufer.
»So schon gar nicht, Herr Speckbacher. Kommen Sie ins Präsidium. Da ist es ruhiger und windstill. Und da sehen wir dann weiter.«
»Wann?«
Der Mann ist hartnäckig, stellt Elsa überrascht fest. Ein Übel oder ein Gewinn. Je nachdem, wie man dieses Vorgehen bewertete. Auf jeden Fall ist Hartnäckigkeit etwas, das sie auch für sich in Anspruch nimmt. Hartnäckigkeit und Verbissenheit. Ohne Einsatz dieser Möglichkeiten geht es meist nicht. Da muss sie ehrlich sein. Nur hätte sie eine derartige Hartnäckigkeit nicht unbedingt von einem Journalisten erwartet, der für ein regionales Tageblatt arbeitet.
»Wann immer Sie möchten. Ob mein Kollege oder ich Zeit haben, wird sich erweisen«, antwortet Elsa und rügt sich innerlich, weil sie derart unkooperativ ist.
»Sie sind wohl von der überfreundlichen Sorte«, kann Gerd Speckbacher sich nicht zurückhalten zu sagen.
»Überzeugen Sie sich selbst«, schlägt Elsa, eine Spur kokett, vor.
Sie schiebt seinen Fuß mit ihrem weg – ein Unterfangen, das ihr für einen Moment alle Kraftreserven abverlangt –, schließt energisch die Tür und schaut nun aus dem Fenster der Gästetoilette, wie er mit hängenden Schultern, die wie zwei schwer beladene Lastentiere aussehen, davontrottet. Jetzt tut es ihr leid, derart unfreundlich gewesen zu sein. Wie meistens, wenn man sie frühmorgens, noch ohne Kaffee oder schwarzen Tee in den Adern, zu Hause erwischt.
Nach einem Frühstück im Stehen, das aus ungesüßtem schwarzen Kaffee, den sie sich längst abgewöhnen will und es doch nicht schafft, und einer halb aufgegessenen Banane besteht, geht es ihr besser. Anna kommt in den Flur. Mit zerzausten Haaren, dafür aber Lipgloss auf den Lippen. Einem Mund, auf dem man ausrutschen könnte, so sehr glänzt er. Außerdem hat sie Ohrstöpsel als Barrikade zwischen sich und dem Rest der Welt im Ohr. Sie nickt ihrer Mutter zu und zeigt ihr eine Zeichnung, auf der wunderschöne Rosen abgebildet sind. Elsa nickt anerkennend. Die Zeichnung gefällt ihr. »Schreckliche Pubertät!«, grummelt sie, als sie sich umdreht und in ihren Mantel schlüpft. Es ist die Zeit der Unbeugsamkeit und des Eskapismus, denkt Elsa oft genug, wenn ihr Anna und ihr sturer Kopf einfällt.
Anna fasst ihre Mutter plötzlich mit beiden Händen bei den Schultern und zieht sich die Stöpsel aus den Ohren. Sie deutet auf die Rosen auf dem Blatt Papier und raunt ihr zu: »Smell the roses.«
Dabei grinst sie derartig, dass Elsa fast
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