Glutnester
aufschreckt. Mit ihrem zweiten Blick entdeckt sie die Kette um Annas Hals. Ein silbernes Kreuz mit schwarzen Steinen. Ein Schmuckstück, das nicht wie Modeschmuck aussieht und das sie nicht kennt. Folglich muss es neu sein. »Woher hast du das?«, fragt Elsa, als sie ihre Finger unter das Kreuz legt, um es näher zu betrachten.
Annas Muskeln spannen sich an. So, als wolle sie dem Schmuck die passende Körperspannung gönnen. Damit er nicht im Gewöhnlichen untergeht. »Wer sich schmückt, zeigt die Fähigkeit, sich in seinem sozialen Umfeld als einzigartig wahrzunehmen. Indiz einer gesunden Ich-Identität.«
»Ah ja? Und wer hilft dir dabei, dir diese Identität zu verschaffen? Er muss auf jeden Fall über ein gut ausgeformtes Portemonnaie verfügen. Wenn mich nicht alles täuscht, sind das schwarze Diamanten. Wenn auch nur kleine.«
»Und ich bin jeden einzelnen davon wert«, entgegnet Anna großmächtig. Sie öffnet die Tür und schiebt ihre Mutter wortlos hinaus. Draußen empfindet Elsa spontan Abscheu vor sich selbst. Wer die Pubertät mit lästigen Fragen störte, hatte seinen Vertrauensvorschuss vertan. Spitzel anstatt Pseudofreundin. Da kommt der Regen, der wie eine Strafe des Himmels erscheint und alles in ein nasses Kleid hüllt, gerade recht. Ein meteorologischer Denkzettel. Er verspricht durchweichte Schuhe, klitschnasse Haare und die Wahrscheinlichkeit eines lästigen Schnupfens.
»Smell the roses!«, wiederholt Elsa Annas Worte, während sie ihren Wagen mit der Fernbedienung öffnet. Erst attestiert Karl Degenwald ihr Rosenlippen und jetzt nimmt Anna das Wort in den Mund. Rosen, die sie riechen soll. Rosen! Gerade jetzt. Und gerade sie.
Im Autoradio hört Elsa einen vergnügten Moderator gegen das depressive Wetter anplaudern: »Lasst die Stunden von selbst zu Tagen werden. Ohne Einmischung. Nennt es ein Experiment. Auf jeden Fall können wir so locker überprüfen, ob sich diese Art Tage besser verdauen lässt, als solche, an denen wir die Marschrichtung vorgeben. Entschleunigung. Macht einfach nichts. Legt euch auf die faule Haut. Lasst laufen. Probieren wir’s heute gemeinsam aus. Viel Glück und – auf Stunden, die sich weigern, gewöhnliche Tage zu sein, liebe Zuhörer.«
Elsa macht eine Geste, als halte sie ihre P 7 in der Hand und ziele damit auf den Moderator. Doch alles, was sie tut, ist, mit der Hand den Regler für die Lautstärke zu erwischen und dem Moderator die aufdringliche Stimme abzudrehen. Als sei es ihre Aufgabe, ihn kaltzustellen. Sofort. Alle Gefühle sinken in die Tiefe ihres Körpers. Sie fühlt sich so schwer, als habe ihr Gewebe alles Wasser aufgesaugt, das vom Himmel fällt. »Verfluchte Scheidung«, nörgelt sie vor sich hin. Sie merkt, wie bitterer Zorn sich in ihr ausbreitet. Ein Gefühl, das wie Wundbrand wütet. Das fröhliche Geplauder des Moderators hat da einfach nicht dazugepasst. Die frühere Sicherheit, eine begehrenswerte Frau zu sein, ist verschwunden. Darunter leidet Elsa wie unter einem gefährlichen Virus. Ihr Leben – so kommt es ihr zumindest vor – findet bereits viel zu lange im Imperfekt statt. Es geschah anstatt es geschieht. Alles, was Gegenwart für sie ist, ist dramatisch. Ihr Beruf. Anna. Sie selbst. Wo bleibt das Glück? Wo bleibt ihre frühere Zuversicht? Verzaubern, umwerben, betören. Worte, die allesamt Bilder in ihr aufsteigen lassen. Solche, an deren Geschmack auf der Zunge und Rhythmus im Herzen sie lange nicht mehr gedacht hat. Sie steigen in ihr auf wie Luftblasen aus dem Wasser. »Ich muss mir was Schönes gönnen. Was Leichtes, Heiteres. Sonst schnürt mir diese verflixte Gereiztheit noch das letzte bisschen Luft weg«, ist Elsa sich sicher. Diese unsägliche Gereiztheit ging ihr inzwischen derart auf die Nerven, dass sie allein davon noch gereizter wurde.
In Traunstein wird der Regen flüchtiger. Es sieht aus, als habe er sich erschöpft und müsse sich ausruhen. Die nassen Fäden verkommen zu einzelnen, zählbaren Tropfen, die vom Wind davongeweht und zerstückelt werden und die schließlich endgültig versiegen. Einzig die vielen Pfützen auf dem Asphalt, die zum Teil wie kleine Seen wirken, legen Zeugnis davon ab, dass sintflutartige Regengüsse das Land heimgesucht haben. In ihnen spiegeln sich die Ölflecken der Autos. Finden Sand, alte Kaugummis, benutzte Taschentücher, Plastikfetzen und Papiertüten ein neues Zuhause. Die Pfützen geben sich der charmanten Kreisstadt hin, bevor sie, vermutlich bald schon,
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