Glutnester
mit einem umherirrenden Blick ein schmales Büchlein mit Lebensweisheiten wahr. Das hat sie in Köln, in einer Buchhandlung in der Nähe des Doms, gekauft und, zurück in Unterwössen, auf einem Stapel Handtücher abgelegt. Sie greift danach wie nach einem rettenden Anker. Schlägt es irgendwo auf. »Das Leben ist keine Reise. Denn eine Reise braucht Anfang, Mitte und Ende. Leben ist Dasein. Sei dort, wo das Leben dich gerade hinstellt, betrachte deine Tage und Nächte als lustvolles Spiel und sieh, was geschieht«, liest Elsa sich vor. »Lebe jeden Moment ganz. Sei präsent. Wenn du jemandem etwas vorwerfen willst, etwa: Du bist untreu!, dann heißt das in Wahrheit: Ich bin mir untreu. Jedes Urteil ist in Wirklichkeit an dich selbst gerichtet. Der andere ist nur der Spiegel deiner eigenen Persönlichkeit.«
Das Buch entgleitet Elsa in die Nässe des Waschbeckens. Kaum hörbar rutscht es ins feuchte Email. Dort saugt der papierne Einband sich mit flüchtigen Tropfen Wasser voll. Elsa hat den Eindruck, dass sie sich durch die Zeilen des Buches an etwas erinnert, das sie vor langer Zeit wusste und wieder vergessen hat. Dass man das Leben selbst gestaltete. Auch seine Beziehungen. Die vor allem.
Unerwartet sieht sie Hartmuts Gesicht vor sich. Seine wütenden, traurigen Augen auf dem Weg zum Scheidungsrichter. Gerade diese Bilder hat sie sich untersagt. Doch nun steigen sie in ihr auf. Verbotenerweise. Dabei will sie einen Schlussstrich ziehen. Ein für alle Mal. Ihr Verstand macht ihr weis, dass sie das bereits getan hat. Aber hat sie es auch im Herzen geschafft? ›Das Leben macht eine Pause, wenn du nicht liebst‹, liest sie am Buchrücken.
Mit Hartmut hatte sie zum Schluss ihrer Ehe eine Liebe gelebt, die sie der Außenwelt und sich selbst gegenüber zur Schau stellte. Dressierte Lust im Schlepptau. Und ein getäuschter Friede, der mehr und mehr dem Gefühl des Scheiterns Raum gab, je dringlicher sie ihn zu beschneiden versuchte. Danach kam das Gefühl der Unabwendbarkeit.
Elsa merkt, wie das Gefühl, versagt zu haben, endlich mit aller Kraft in ihr aufsteigt. Mitsamt seiner hinterhältigen Schwere und Tragik. Tränen schießen ihr in die Augen. Sie lässt sie ungehindert hinunterrinnen. Dann setzt das Zittern der Schultern ein, das, Millimeter für Millimeter, ihren gesamten Körper einnimmt. Wie sehr hatte sie zuletzt an Hartmut herumgekrittelt. Jede kleine Verspätung war ihr recht gewesen. Sie wollte ihm zeigen, wie wenig er ihr genügte. In messianischem Ton hatte sie mit ihm gesprochen. Und mit sich selbst auch. Verwundung, Demütigung und Vertrauensbruch hatte sie prophezeit. Wie robust musste eine Seele sein, um das – auf Dauer – wegzustecken? Unter den Voraussetzungen ihrer Beziehung mussten Brücken bersten.
Doch etwas in ihr will diese Härte, die sie seitdem umgibt, nicht mehr. Will die innere Mühsal zum Schmelzen bringen. Endlich weich sein. Aufgefangen werden.
›Wer keinen Schlussstrich zieht, spürt nie die Süße freudigen Beginnens‹, liest Elsa, als sie ein weiteres Mal in das Buch hineinlugt. Mit tränengetränktem Blick.
Mit halsbrecherischer Unbekümmertheit bricht eine Möglichkeit eine Schneise in den Moment. Ein Gedanke fällt über Elsa her. Wühlt sie heiß und impulsiv auf. Sie will sich nicht zu viel Zeit zum Nachdenken herausnehmen. Sonst verschreckt sie die Möglichkeit. Vielleicht reichte vorerst eine marginale Episode. Um wieder Lebendigkeit in ihre Nächte, in ihr Dasein zu bringen. Elsa fischt das Buch ein letztes Mal aus dem Becken und legt es auf das Handtuch neben sich. Dann geht sie ins Ankleidezimmer und sucht ein hübsches Kleid, Unterwäsche und Strümpfe heraus. Hastig zieht sie sich an. Zurück im Bad, legt sie Lidschatten, Wimperntusche und Lipgloss auf. Nach einem letzten zufriedenen Blick in den Spiegel rennt sie die Treppe hinunter und verlässt noch mal das Haus.
7. Kapitel
Degenwald sitzt auf dem Heizkörper. In seinem Wohnzimmer unterm Dach. Das Fenster einer ungehinderten Aussicht nach draußen hin geöffnet. Er verliert sich in der Finsternis, die sich zwischen den Ästen der Obstbäume versteckt. Er sieht und hört, wie der Wind satt und klingend durchs Geäst fährt. In den Baumkronen hocken dunkle Vögel und scheuchen, durch plötzliches Davonfliegen, Schatten auf. Degenwald erkennt den Ruf eines Käuzchens. Seltene Laute, als Lied in die frühe Nacht getragen. Er lächelt gerührt, wirft einen letzten verabschiedenden Blick in den Garten,
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