Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
Vom Netzwerk:
verletzbar. Eine Verletzlichkeit, die sie nicht länger fürchtet, sondern die sie sucht. Weil sie der Same jeder Lebendigkeit ist.
    »Danke«, erwidert sie, obwohl das keine Antwort auf Bens Frage ist. Sie küsst ihn erneut. Diesmal flüchtig, dabei aber nicht weniger innig. »Ich danke dir sehr.« Elsa löst ihre Hand von Bens Bauch. Dort hatte sie eine kurze Weile lang einen wunderbaren Ankerplatz gefunden. Sie lächelt ein letztes Mal.
    Dann dreht sie sich um, erfasst die Türklinke, drückt sie hinunter und verlässt seine Wohnung. Er schaut ihr, einen kurzen Moment verdutzt, dann die Situation akzeptierend, hinterher. Bleibt allein im Vorraum zurück. Einem Raum, der sich mit ihrer beider beginnenden Lust, dem flüchtigen Zauber keimender Begierde aufgeladen hat.
     
    Degenwald stolpert über eine Aussage Helga Kratzers, die schriftlich, aber seltsamerweise nicht gedanklich von ihm festgehalten worden ist. Nämlich, dass ihr Vater Roland ursprünglich die Schwester ihrer Mutter, Veronika, hatte heiraten wollen. Doch wenige Tage vor der Hochzeit musste etwas passiert sein, worüber nie gesprochen wurde. Er entschied sich um, verließ Veronika und ehelichte Luise. Dieser Hinweis kommt Degenwald jetzt wie ein Widerhaken vor. Ein schmerzhafter Hinweis auf eine Verknüpfung der beiden toten Schwestern, die sie so vielleicht nicht gewollt hatten. Degenwald blickt auf, lässt seine Augen ziellos durchs Zimmer streifen und macht sich ernsthaft Gedanken darüber, wie weit das Band, das die Schwestern vom frühesten Erwachsenenalter an verbunden hatte, reichte.
    Schließlich blättert er weiter und überfliegt Hörnchens Bericht. Er liest, dass Sevofluran ein volatiles Anästhetikum aus der Gruppe der Flurane ist. Ein gängiges Mittel, das eine ausgezeichnete hypnotische Wirkung besitzt. Der Täter oder die Täterin hatte das Narkosegas vermutlich über einen Inhalator, wie man ihn überall kaufen konnte, verabreicht. Den Behälter, die braune Flasche, hatte Elsa im Haus des Opfers in Händen gehalten. »Sie ist also tatsächlich narkotisiert worden«, spricht Degenwald zu sich selbst. »Nachdem sie mit Schlafmitteln vollgepumpt wurde«, ergänzt er.
    Er lässt den Ordner sinken und studiert das Bild gegenüber. Einen mit Kohlestift aufs Papier gebannten Akt. Der Frauenkörper an der Wand wirkte genauso abstrakt wie Veronika Steffel, die noch vor zwei Tagen quicklebendig durch den Ort spaziert war und die er, wenn er sie sah, als zurückhaltend, aber auch warmherzig empfunden hatte. Eine für ihn nachdenkenswerte Charakterkombination, hinter deren Ursache er nie gestiegen war.
    Jetzt war es amtlich. Veronika Steffel war keinem Unfall oder schrecklichem Missgeschick zum Opfer gefallen, sondern einem Mord. Sie konnte beim besten Willen nicht diejenige gewesen sein, die sich zuerst ein Schlafmittel verabreichte, um sich später mit einem Narkosemittel, das dazu führte, dass sie sich erbrach und daran erstickte, den Rest zu geben. Im Haus hatten weder er noch Elsa und später auch nicht Ben und seine Kollegen größere Mengen an Schlafmitteln gefunden. Lediglich eine angebrochene Packung, in der drei Tabletten fehlten. Doch das braune Fläschchen, in dem sich das Inhalationsanästhetikum Sevofluran befunden hatte, war sichergestellt worden. Auf dessen Oberfläche hatten sich, wie zu erwarten, keine Fingerabdrücke feststellen lassen. Weil jemand, nachdem er die Flasche angefasst und zum Einsatz hatte bringen können, seine Fingerabdrücke entfernt hatte. »Wer ist dieser Jemand? Und warum hat Veronika ihr Leben lassen müssen?«, flüstert Degenwald wie ein Mantra in die Stille des nächtlichen Zimmers.
     
    Es ist kurz vor elf. Elsa steht, zum zweiten Mal an diesem Abend, vor ihrer Haustür. Sie nimmt die Post, die sie zuvor vergessen hat, aus dem Briefkasten. Als Erstes sieht sie einen knittrigen, zusammengefalteten Zettel. Keine gewöhnliche Post, denkt sie. Sie unterdrückt den Impuls, den Text zu überfliegen. Betritt leise den Flur ihres Hauses. In der Geborgenheit des Vorraums öffnet sie das Blatt. Wirft endlich einen raschen Blick auf das unlinierte Papier. Sie registriert die ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben. Dann den Inhalt, den die Buchstaben formulieren: ›Du gefällst mir. Viel zu sehr, um dich in Ruhe zu lassen.‹
    Elsa spürt, wie die Wände des Flurs nachgeben. Sie erscheinen plötzlich wie aus Wachs. Schweres, mit Mörtelbrocken und Zement vollgesogenes Wachs. Gleich wird sie unter diesen Wänden

Weitere Kostenlose Bücher