Glutnester
Marissas Oma ermordet worden? Wird ja ’ne Menge geredet.«
Anna mustert Nadine und nickt zaghaft, ohne etwas zu entgegnen. »Über polizeiliche Ermittlungen darf nichts nach außen dringen. Niemals, hörst du!«
»Klar. Versteh ich doch«, entgegnet Nadine und hebt die Hand eilig zum Schwur. Inzwischen sind die Mädchen bei der Eiche, die von einer Holzbank umrahmt ist, angelangt. Ein beliebter Pausentreffpunkt. Nadine weist nach vorne. Auf ein Mädchen, das aus der Clique, in der es sich befindet, heraussticht. »Da drüben ist die Marissa«, sagt sie.
»Wow!« Anna lässt einen leisen Pfiff hören. Sie kann sich kaum vom Anblick des Mädchens, das nur wenige Schritte von ihnen entfernt steht, lösen. »Die leidet aber auch nicht an genetischen Nachteilen.«
Nadine starrt Anna fragend an.
»So was nenn’ ich ’nen Hingucker«, meint Anna erklärend.
»Das heißt noch nichts.« Nadine lässt ein genervtes Seufzen hören. »Wie ich die Marissa kenn, nutzt die ihr Aussehen schamlos aus. Und die Art Vorzüge haben oft eine verdammt kurze Halbwertzeit.«
»Hör ich da eine Spur Eifersucht heraus?«, gräbt Anna nach und stupst Nadine freundschaftlich in die Seite.
»Tsss! Auf eine 13-Jährige eifersüchtig sein? Bestimmt nicht«, entgegnet Nadine und rückt unmerklich von Anna ab. Mit einem Gesicht, das von unterdrückter Betroffenheit gezeichnet ist.
Elsa sitzt im Büro vorm Computer. Die vergangene Nacht steckt ihr noch in den Knochen. Unzählige Stunden, die nicht vergehen mochten. An Schlaf war nicht zu denken. Nicht nach der Post, deren Worte, jedes einzelne für sich, wie ein Damoklesschwert über ihren Nachtstunden hing. Zeilen auf knittrigem Papier. Wörter wie eine versteckte Drohung. Eine Nacht, die ihr wie eine Strafe erschien.
Mit dunklen Rändern unter den Augen blickt Elsa auf den Bildschirm. Von dort sieht ihr das Porträt Veronika Steffels entgegen, die als Vero Vailand unzählige Arztromane geschrieben und ganz passabel davon gelebt hat. Für die Heftchen mit einem Umfang von durchweg 120 bis 130 Seiten, von denen sie zwei pro Monat schrieb, musste sie nicht mal ihr Haus in Point verlassen. Auf der Webseite des Verlags erzählt Vero Vailand im Interview von ihrem beschaulichen Leben im Chiemgau. Zwischen Bergen, Hügeln und Tälern. Inmitten von Tannen, Wiesen und allerlei Getier. Die Abgeschiedenheit biete das passende Umfeld, um sich ihren Arztromanen zu widmen, die, so widersinnig es klang, im Großstadtmilieu angesiedelt waren. In Veronikas letztem Heft ging es um eine Frau, die an Diabetes litt und an Unterzucker stirbt. Nachdem ihre Enkeltochter sie nach einem Streit ins Zimmer einschloss, sodass die Kranke, nach Einnahme ihrer Medikamente, nicht an die nötige Nahrung herankam. Danach der Tod. Elsa, die sich die Zusammenfassung wieder und wieder durchliest, ist erschüttert. Kann es kaum glauben. Da hat sie sich nur kurz die Zeit vertreiben wollen. Bis zum Eintreffen Roland Gasteigers und dem Rest seiner Familie. Und dann stößt sie, sozusagen nebenbei, auf eine literarische Vorlage von Luise Gasteigers Tod. Von der eigenen Schwester ausgedacht und zu Papier gebracht. »Das kann unmöglich Zufall sein. Auch kein makabrer«, murmelt Elsa.
Dass Degenwald schon frühmorgens nach München gefahren ist, hat Elsa durch ein Post-it auf ihrem Telefon erfahren. Sein Fehlen stört sie nicht. Im Gegenteil. Für das, was sie, nach neuesten Erkenntnissen, vorhat, braucht sie Zeit und Ruhe.
Sie hört, wie nebenan die Tür geht. Hastig steht sie auf. Durchschreitet den Verbindungsraum zwischen ihrem und Degenwalds Büro. Und sieht sich Roland Gasteiger, Helga und Hubert Kratzer und einem jungen Golden Retriever gegenüber. Den Hund hat sie bisher noch nicht gesehen.
»Morgen«, grüßt Helga Kratzer. Ihr Gruß klingt wie eine Höflichkeitsfloskel, die sie sich notdürftig abgerungen hat.
»Dann wollen wir mal Ihrer aller Finger-und Fußabdrücke nehmen«, Elsa legt eine kurze Pause ein, eher strategisches Mittel als Notwendigkeit, »und wenn ich anders nicht weiterkomme, analysieren wir das letzte Werk Ihrer Tante. Falls nötig, komme ich diesbezüglich noch auf Sie zu.«
»Wiaso des?«, fällt Hubs Kratzer Elsa ins Wort. Sie hört den genervten Unterton deutlich heraus. »Glauben ’S etwa, mia lesen so an Schund? Diese Arztschmonzetten?«
»Das sollten Sie, Herr Kratzer. Veronika Steffel hat in ihrem letzten Roman – in aller Akribie – den Tod Ihrer Schwiegermutter
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