Glutnester
den Hof verkaufen wollten und die Alten nicht. Mit dem Ergebnis eines Mordes. Aus Habgier.«
Degenwald dreht das Radio, das laut vor sich hindudelt, nicht leiser.
»Sagen Sie mal, verstehen Sie mich überhaupt? Trotz der Stones?«
»Kein Problem«, nuschelt Degenwald. »Was haben Sie heute sonst noch vor?«, ringt er sich ab.
»Die Kratzer-Kinder. Gleich nach der Schule.«
»Gratuliere, wenn’s Ihnen gelungen ist, das der Helga klarzumachen.«
»Ich rufe an, wenn sich was tut«, verspricht Elsa, die sich immer unbehaglicher bei diesem Gespräch fühlt. Eigentlich wollte sie Degenwald von Veronika Steffels letztem Roman berichten. Doch jedes seiner Worte lässt sie mit der Empfindung zurück, sie habe sich etwas Nichtwiedergutzumachendes geleistet.
»Ach ja, ich soll Grüße von Ben ausrichten. Ganz liebe.«
Na also. Das ist der Knackpunkt, weiß Elsa sofort. Ehe sie etwas erwidern oder sich wenigstens verabschieden kann, hat Degenwald aufgelegt. Elsa schaut auf ihr Handy in der Hand und steckt es zurück in die Tasche. Die Grüße, die Degenwald ausgerichtet hat, klangen eher wie eine Drohung. Da sie davon ausgeht, dass Ben nichts bezüglich ihres Kusses ausgeplaudert hat, wird der Umstand, dass Degenwald ihr gegenüber heute derart kurz angebunden ist, auf das Konto seiner Intuition gehen. Ob er spürt, dass sie dem Spurentechniker nähergekommen ist? Hat er einen sechsten Sinn, was ihr Privatleben anbelangt? Weshalb tritt die Erinnerung an einen ersten Kuss Bens, der durchaus wohlschmeckend war, mit einem Mal in den Schatten einer möglichen Verurteilung Degenwalds?
»Rosenlippen«, murmelt sie, während sie durch das kleine Fenster des Zimmers blickt. Dieses Kompliment würde ihm sicher nicht mehr entkommen.
Draußen biegt Maria Kratzer um die Ecke. Ein 13-jähriges Mädchen, das mindestens zwei Jahre älter wirkt. Gut gewachsen, lange blonde Haare, blasses, fein modelliertes Gesicht. Sie sieht ihrem Großvater, Roland Gasteiger, ähnlich. Mit wippenden Schritten steuert sie den Hof an.
»Meine Güte, bist du hübsch«, entkommt es Elsa. Sie fährt sich mit dem Zeigefinger über die Lippen und überlegt. Sie wird mit Maria, die sich Marissa nennt, beginnen. Einem Mädchen, das wie die schönste Rose im Tau des Morgens wirkt. Wäre da nicht dieses falsch angeordnete Lächeln im Gesicht. Eines, das den Mund als Ausgangspunkt hat, aber irgendwo im Gesicht verloren geht und nicht bis zu den Augen reicht. Marias Blick bleibt kalt wie ein Bergsee. Und die offensichtlichen sexuellen Merkmale einer Erwachsenen, über die sie bereits verfügt, sind mehr, als man vernünftigerweise in ihrem Alter vermuten sollte. Zu all dem hat Maria, weshalb auch immer, ein groteskes Scheitern ins Gesicht gemeißelt. Dieses Scheitern lauert in ihren Augen. Elsa tut der Anblick des Mädchens plötzlich fast körperlich weh.
Degenwalds Wagen verlässt die Autobahn und fährt auf der Bundesstraße Richtung Aschau. Der idyllische Ort, unweit des Chiemsees, beherbergt ein prachtvolles Hotel mit intimer Note und integriertem Spitzenrestaurant. Dessen hochgelobte Küche wollte er sich schon immer einmal gönnen. Doch abgesehen davon, dass ihn dieser Besuch eine Stange Geld kosten würde, weiß er bis jetzt nicht, wen er zu diesem besonderen Abend einladen sollte.
Degenwald parkt seinen Wagen, steigt aus und spaziert Richtung Residenz. Alles in allem, grübelt er, ist er einfach noch nicht dazu gekommen, in einem hervorragenden Restaurant wie diesem aufzutreten. In der Nähe der Residenz Winkler trifft er, völlig unerwartet, auf Fritz Haberstock, seines Zeichens Geschäftsführer der Bauträgergesellschaft Stibo, die am Hof der Gasteigers reges Interesse zeigte.
Degenwald und Haberstock landen nach kurzer Begrüßung in der Stube der Residenz. Bald schwirrt ein kompetenter Kellner um sie herum und reicht ihnen – als könnten sie nichts anderes vorhaben, als hier zu speisen – die Karte. Degenwald überlegt, dass dieses Treffen durchaus mit einem kleinen Imbiss enden könnte. Wieso auch nicht? Allerdings müsste er das gegenüber seinem Vorgesetzten rechtfertigen. Also wird er das Ganze privat abhandeln und selbst zahlen müssen. Ein exzellentes Essen beruflichen Hintergrunds, das mit weniger exzellenten Worten gespickt sein würde. Er entscheidet sich, alles auf sich zukommen zu lassen. Jetzt sitzt er jedenfalls hier. In anderen Angelegenheiten, als er es sich je hätte träumen lassen.
Der von Haberstock bestellte Wein und
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